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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Autoren: Ralf Schulte
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sie: schnell hier hin, schnell da hin, zwischenzeitlich noch was anderes erledigen, arbeiten gehen, studieren, einkaufen – eben das volle Programm eines Tages. Dann meditierte sie eine Runde, um sich zu entspannen. Ihre Lieblings-Yoga-Übung „Wir verabschieden den Tag“ schloss das Fitness-Programm ab. Leider bekam sie nicht alle Körperteile dorthin, wo sie hin sollten, es war einfach zu kalt. Abends fiel öfters die Heizung aus. Der Heizkessel im Keller musste ständig repariert werden und das heiße Wasser gelangte immer seltener in die oberen Stockwerke. Selbst der Monteur kannte den Grund nicht. Und wenn die Heizung irgendwann doch funktionierte, wurde plötzlich die Gaslieferung eingestellt. Vor allem im Winter konnten nicht alle Stadtwerke mit der nötigen Gasmenge aus Russland beliefert werden. Der Anbieter Gas-Com sprach dann von klimabedingter Verknappung der Ressourcen. Für Clara bedeutete das kalte Füße.
Noch schlimmer machten es ihr die Nachbarn im Sechsten. Ständig polterte es, als würde eine siebenköpfige Familie von den Schränken springen – und jedes Mal befürchtete Clara, dass die Decke einbrach. Mit ihnen zu reden, machte keinen Sinn. Sie hatte es versucht, aber ohne Erfolg. Der Vater, ein glatzköpfiger kleiner Mann, der sich wie eine Schildkröte bewegte, und seine Frau, eine ebenso gebückte wie glatzköpfige Frau, ignorierten ihre Argumente für eine ruhige und harmonische Nachbarschaft. Anscheinend sprachen sie generell nicht mit ihren Nachbarn, vielleicht verstanden sie diese auch nicht – schließlich hatte nur der Chinese aus dem Erdgeschoss behauptet, sie kämen aus Rheinland-Pfalz. Da die Familie aber fast immer schwieg, blieb dies nur schwer überprüfbar. Ruhiger wurde es erst spät abends. Meist brüllten die Eltern sich dann gegenseitig an, oft war er nur zu hören. Schließlich vertrugen sie sich wieder. Kurz darauf landeten sie zusammen im Bett und anschließend folgte ein lautes Gestöhne bei dem diesmal nur sie den Ton angab. Erst zum Schluss erklang das Duo. Er ächzte zweimal laut. Dann Stille.
Nach diesem Tagesprogramm war Clara bereit für eine kurze Pause: Sie versuchte Finn auf seinem Handy zu erreichen, doch ohne Erfolg. Eigentlich wollte sie noch einmal mit ihm sprechen, bevor sie sich hinlegte und danach zur Nachtschicht ging. Doch als sie es ein weiteres Mal probieren wollte, senkten sich ihre Augenlider, ihr Kopf fiel nach unten und landete auf der Seite 67 im Sobotta Anatomie-Atlas.
Maximilian explodierte dagegen förmlich vor Energie. Er kramte seine Schmutzwäsche aus dem Koffer hervor, wusch sie im Bad durch und hängte sie schließlich an einer Leine auf, die er vom Fenster bis zu einem der vielen Regale spannte. Der kleine Dackel schaute aus der Pappschachtel heraus und beobachtete sein Herrchen. Dann wurde es Maximilian langweilig und so entschloss er sich, Musik zu hören – er war gerade in der passenden Stimmung für Huey Lewis & News. Vielleicht sollte er lieber etwas lesen? Bücher füllten den Raum, an jeder Wand standen Regale, die bis vom Boden bis zur Decke mit den unterschiedlichsten Exemplaren gefüllt waren: groß, klein, eckig, rund, braun, rot, vergilbt und neu. Es waren so viele alte, ineinander verschachtelte Bücher, dass vermutlich das Zimmer eingebrochen wäre, nähme man ein Buch heraus. Doch daran dachte er nicht. Kurz zuvor hatte er eine Zeitung gefunden. Sie lag zufällig vor der Nachbarstür, vermutlich hätte man sie sowieso nicht mehr gelesen. Wer nach acht seine Zeitung nicht reinholte, riskierte sein Leserecht. Warum nannte man die Zeitung wohl Morgenzeitung? Man musste sie am Morgen lesen. Nicht später. Doch an diesem Tag fand Maximilian nichts Lesenswertes, was ihn für einige Zeit hätte beschäftigen können. In der Politik ging es um Wahlversprechen und Reformen. Wie jede Woche. Wie jedes Jahr. Die Wirtschaftsseite las er erst gar nicht. Überall schien es besser zu sein, als in diesem Land. Das deprimierte. Aber schlimmer noch: Sie setzten Maximilians Lieblingsserie ab – „Harry hat’s schwer.“ Der Cartoon handelte von einem alten Mann, der die Welt bereiste und dabei Abenteuer erlebte. Sozusagen eine Serie für die Älteren. Sie erzählte von alten Mafia-Gangstern, alten Schwerverbrechern, alten Dieben und Alten im Allgemeinen. Wegen dieser Serie wollte Maximilian auch niemals ins Heim. Denn wo würden all die Verbrecher hinkommen, wenn sie in Rente gingen? Natürlich ins Altenheim. Kein Wunder, dass es
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