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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml
Autoren: Vladimir Sorokin
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     alles kein Problem für Marfuscha.
    Sie zog ihre gelbrote Drachenzahnbürste aus dem Becher und
     erweckte sie zum Leben, füllteZahnelixier ein, schob sie sich in
     den Mund. Der kleine Drache spritzte Minzfein auf die Zunge und machte sich fauchend über ihre Zähne her. Derweil
     brachte Marfuscha den Flechtkamm in Stellung, der ihr, zuverlässig sein Werk
     verrichtend, surrend durch die roten Haare fuhr. Was hatte Marfuscha für hübsches
     Haar! Lang, glatt und seidig. Da fuhr der Kamm doch mit Freuden hindurch. Unten
     angekommen, kehrte er zum Scheitel zurück und begann, ihr die Zöpfe zu flechten.
     Indes hatte Marfuscha die Drachenbürste ausgespuckt, gespült und in den Becher
     zurückgestellt. Noch einmal zwinkerte ihr der Zahnputzdrache mit seinem Feuerauge
     zu, ehe er bis zum nächsten Morgen erstarrte.
    Da rief es auch schon aus der Küche: »Marfuscha, stell den
     Samowar auf!«
    Das war die Großmutter, die dort rastlos herumfuhrwerkte.
    »Gleich, Großmutter!«, rief Marfuscha zurück und trieb
     ihren chinesischen Kamm zur Eile: »Kuai-yi-diar!« 1
    Der Kamm surrte lauter, geschwinder glitten die weichen
     Zinken durch ihr rotes Haar. Marfuscha suchte eine orangene Schleife aus sowie ein
     Paar Schmuckkirschen und wartete, bis der Kamm sein Werk vollendet hatte; dann
     huschte sie hinter die Trennwand, wo die Küche war.
    Auch für den großen, anderthalb Eimer fassenden Samowar
     kam Marfuscha sich nicht zu klein vor. Sie füllte ihn mit Wasser, entzündete ein
     Stück Birkenrinde und warf es in den schwarzen Schlund. Obenauf kamen Kienäpfel, die
     hatten sie mit der Klasse auf einem Ausflug nach Serebrjany Bor gesammelt. Drei
     Säcke Kienäpfel in einer Woche, sie ganz allein! Das war für die Eltern eine große
     Hilfe und für Mütterchen Moskau ebenso.
    Im Samowar fing es zu prasseln an. Marfuscha warfeine Handvoll Birkenspäne auf die Kienäpfel und setzte das
     Rohrknie auf, das andere Ende kam in das Loch in der Wand. Dahinter war der
     Schornstein: der große, für das ganze Hochhaus mit seinen sechzehn Etagen. Bald
     summte der Samowar fröhlich vor sich hin, die Kienäpfel knackten.
    Die Großmutter, auch nicht faul, hatte gleich nach dem
     Morgengebet den Ofen zu heizen begonnen. So war es in Moskau jetzt Sitte: dass
     frühmorgens der russische Ofen geheizt und mittags das Essen auf ihm gekocht ward,
     ganz wie der Gossudar sein Volk geheißen hatte. Das war für Russland eine große
     Hilfe und Ersparnis an kostbarem Erdgas. Marfuscha sah gerne zu, wie die Holzscheite
     im Ofen brannten. Aber heute hatte sie dafür keine Zeit. Heute war ein besonderer
     Tag.
    Marfuscha ging in ihr Eckchen, zog sich an, sprach
     geschwinde ein Gebet und verneigte sich vor dem lebenden Bildnis des Gossudaren an
     der Wand: »Heil Euch, Wassili Nikolajewitsch!«
    Der Staatslenker lächelte ihr zu, seine blauen Augen
     blickten freundlich: »Guten Tag, Marfuscha!«
    Mit einer Berührung der rechten Hand weckte Marfuscha ihre
     schlaue Maschine. »Grüß dich, schlaue Maschine!«
    Ein blaues Aufleuchten war die Antwort und ein schnelles
     Blinken: »Grüß dich, Marfuscha!«
    Marfuschas Finger klapperten über die Tasten, sie ging ins Russnetz und riss vom Baum der Lehre Blatt für Blatt die
     Schulnachrichten:

    Weihnachtsgottesdienst für die Schüler der
     Kirchgemeindeschulen!
    Nationaler Wettstreit um die schönste Eisplastik
     von unseres Gossudaren edlem Silberschimmel Budimir!
    Skiwettlauf mit chinesischen Robotern!
    Rodeln an den Sperlingsbergen!
    Schüleraufgebot an der 62. Schule!

    Marfuscha blätterte die letzte Seite auf:

    Die Schüler der Kirchgemeindeschule Nr. 62 haben beschlossen,
     dem Ziegelwerk Bolschewo auch zum Fest von Christi Geburt ihre patriotische
     Unterstützung bei der Erfüllung des staatlichen Programms »Große Russische Mauer«
     angedeihen zu lassen.

    Marfuscha wollte gerade in ihr persönliches Briefkästchen
     wechseln, da blies ihr der Großvater seinen Tabakatem ins Genick:
    »Guten Morgen, Springinsfeld! Was gibt’s Neues in der
     Welt?«
    »Die Schüler kneten auch zu Weihnachten Ziegel!«
    »Da schau an!« Staunend schüttelte der Großvater den Kopf
     und starrte auf die Leuchtblase. »Das sind ja richtige Helden. So kriegen wir die
     Mauer bis Ostern fertig gebaut!«
    Dabei piekte er Marfuscha scherzhaft den Finger in die
     Seite. Marfuscha lachte, der Großvater schmunzelte in seinen grauen Schnauzbart.
     Marfuscha hatte einen Großvater, der
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