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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml
Autoren: Vladimir Sorokin
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drüberbrate!«,drohte der Hausmeister. »Und anschließend geht’s
     aufs Revier, Freundchen!«
    Der Krüppel ward von dem Alten und dem Jungen aufgehoben
     und fortgezerrt. Die Jungs vom Hof johlten ihnen nach, warfen Schneebälle.
     Andrejitsch mit seiner roten Nase spuckte in den Schnee, klappte den Knüppel
     zusammen und verschwand im Hauseingang.
    Eine gute Tat zum Wohle des Staates war vollbracht.
     Befriedigt klingelte Marfuscha an ihrer Tür. Die Großmütter öffnete, bebend vor
     Zorn:
    »Wo hast du Biest dich rumgetrieben?«
    Der Großvater, aus der Toilette kommend, sah lächelnd über
     Großmutters Schulter.
    »Wird sich festgeschwatzt haben bei ihrer kleinen
     Freundin!«
    Indes tönte des Vaters mürrische Stimme aus der Küche:
     »Marfa darf man nur nach dem Tod schicken.«
    »Ich bin dem gerechten Amonja begegnet!«, rechtfertigte
     sich Marfuscha. »Er hat sich aufheben lassen vor allen Leuten, und dann wollte er
     Schmerzensgeld haben. Ich hab ihm das Brot und die Zigaretten gespendet und musste
     alles noch mal kaufen gehen.«
    Der Zorn der Großmutter flaute ab.
    »Na, der wird’s nötig haben«, brummelte sie nur.
    »Und, was hat er gesehen?«, erkundigte sich der Großvater.
    »Strelitzen werden plattgemacht.«
    »Von mir aus!«, sagte die Großmutter und winkte ab,
     während sie Marfuscha die Tüte mit dem Brot aus der Hand nahm.
    »Kann denen nicht schaden!«, murrte der Vater.
    »Gewiss nicht!«, bestätigte der Großvater, eine Papirossa
     anzündend.
    »Was die sich für Hängebacken angefressen haben in allerFriedenszeit!«, ergänzte die Mutter, die gähnend und mit
     aufgelöstem Haar aus dem Bad kam. »Woronin, der Lude, fährt drei Merins … Und jetzt
     setzt euch endlich zum Frühstück.«
    Die Familie betete zum Wundertätigen Nikolai. Es gab
     Hirsebrei mit Milch zum Frühstück, dazu Weißbrot mit Apfelmarmelade und chinesischen
     Tee. Der Vater packte seine Zigarettenetuis ein und ging damit auf den Markt Handel
     treiben. Mama und Großmutter machten sich auf in die Kirche. Großvater fuhr mit dem
     Schlitten zum Arbat, Holz holen. Marfuscha blieb allein zu Hause und besorgte den
     Abwasch, spülte Teller und Becher, wusch die Kragen ihres Schulkleides aus und
     bügelte sie. Schließlich setzte sie sich an ihre schlaue Maschine und spielte Guo-jie 2 . Darüber wurde es Mittag, doch das Baojian 3 zu finden gelang ihr leider nicht. Man muss es nicht im Schloss suchen,
     sondern unterirdisch – da wo die Krieger stehen, die erst aus Ton sind und später
     lebendig werden, sich aus der Erde wühlen und auf die Staatsgrenze zugekrochen
     kommen. Solange man gegen sie kämpft, sieht man das Baojian blau leuchten; kaum hat man sie
     besiegt, ist es weg. Und dann soll es einer wiederfinden! Immerhin hat Kolja
     Baschkirzew ihr schon verraten, was passiert, wenn das Baojian gefunden ist: Dann fallen gleich alle
     Feinde tot um, und der junge Gossudar freit die Prinzessin Sun Yuan. Von da führt
     ein Zweig für Mädchen zur Hochzeit. Die sei sehr schön, sagt Kolja: Die Braut
     wechselt während des Festmahls fünfmal das Kleid, und am Ende gibt es noch einen
     besonderen Zweig, der aber verboten ist: Da sieht man angeblich, was die
     Jungvermählten des Nachts im Schlafgemach treiben. Das anzusehen ist strengstensuntersagt! Marfuscha würde es auch niemals tun, aber die Jungs,
     die das Baojian gefunden haben, die gucken
     es sich an …
    So vergingen weitere Stunden, die Kuckucksuhr an der Wand
     kuckuckte. Mama und Großmutter kehrten aus der Kirche heim, Großvater brachte einen
     Schlitten voll Holz geschleppt, auch der Vater kam gut gelaunt vom Markt nach Hause:
     Drei Etuis hatte er losgeschlagen und vom Gewinn einen Viertelliter Wodka und in der
     Apotheke ein Quentchen Koks gekauft. Das schnupften Mama und er gemeinsam, der
     Großvater bekam auch ein bisschen ab. Koks war das Einzige, was den ewig
     übellaunigen Vater in Stimmung brachte. Dann war er gleich ein ganz anderer:
     redselig, quirlig, übermütig. Und war der Vater übermütig, sang er. Sang Herbst, du meine Traurigkeit, Stepan Rasins Traum, Der Falke im Schnee, Ein Kind von Traurigkeit und Chasbulat, tapfrer Held. Zu dritt tranken sie
     und sangen so lange, bis ihnen die Augen feucht wurden; alles wie immer. Derweil
     löffelte Marfa ihren Brei und blätterte den Schulbaum auf, um den Stundenplan für
     morgen nachzusehen:

    1. Religion
    2. Russische Geschichte
    3. Mathematik
    4. Chinesisch
    5.
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