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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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jener Tage war der berühmte Kratinos, und mit zwölf Jahren hatte ich die Ehre, diesem großen Mann vorgestellt zu werden. Es gibt nur wenige Menschen auf dieser Welt, die wirklich die Bezeichnung ›ekelhaft‹ verdienen, aber Kratinos gehörte auf jeden Fall dazu. Er war ein buckliger kleiner Mann mit einem boshaften Grinsen, und seine Hände zitterten unaufhörlich, selbst dann, wenn er verhältnismäßig nüchtern war. Irgendwo auf seiner Kleidung klebte stets Erbrochenes, und sein Interesse an kleinen Jungen beschränkte sich nicht gerade auf seine Rolle als Lehrer. Dennoch war er stets ein angesehener Gast, zumindest für den frühen Teil des Abends, und trotz seiner ihm eigenen unglückseligen Angewohnheiten – zum Beispiel das Abwischen der Finger nach dem Niesen im Haar des Tischnachbarn –, ist mir (außer anderen Komödiendichtern) nie jemand begegnet, der ihn wirklich nicht gemocht hat. Kratinos war der geborene Politiker und haßte und verachtete Perikles mit jeder Faser seines zerbrechlichen und abstoßenden kleinen Körpers. Von daher war es ziemlich leicht, seine ewige Freundschaft zu gewinnen. Als ich dem älteren Bruder meiner Mutter, meinem Onkel Philodemos, der Kratinos recht gut kannte, sagte, daß ich den Komödiendichter gern kennenlernen würde, brachte er mir die dazu notwendigen Kniffe bei.
    Um sich bei Kratinos beliebt zu machen, brauchte man nur folgendes zu tun: Sobald sich das Gespräch um Politik drehte, mußte man eine bekümmerte Miene aufsetzen, als sei man kurz davor, ein furchtbares Geständnis abzulegen. »Ich weiß, das ist sehr dumm von mir«, pflegte man zu sagen, »und ich weiß auch, daß Perikles dieses Land erst zu dem gemacht hat, was es heute ist, aber im Grunde meines Herzens glaube ich, er hat eine völlig falsche Einschätzung von…« An diesem Punkt fügt man das aktuelle Tagesthema ein, um dann mit verlegenem Blick und, falls möglich, leise murmelnd fortzufahren: »Ich kann allerdings nicht sagen, warum. Das ist nur so ein Gefühl.«
    Das war nun Kratinos’ Stichwort. Er pflegte einen sofort zu unterbrechen und zu einer äußerst nachdrücklichen und von vielen Gesten begleiteten Erklärung anzusetzen, was genau in letzter Zeit an Perikles’ Politik falsch war. Während dieser Darlegung runzelte man natürlich die Stirn und nickte widerstrebend, als wäre man gegen den eigenen Willen gezwungen, eine große Wahrheit anzuerkennen. Kratinos mußte nun glauben, einzig und allein er selbst hätte einen zur rechten Meinung bekehrt, und man wäre ab jetzt sein lebenslanger Freund und politischer Weggefährte.
    Nach mehreren Proben wurde meine Textbeherrschung als vollkommen beurteilt. Aus diesem Grund wurde ein Trinkgelage angesetzt und auf dem Markt ein billiges, gebrauchtes Tafelservice gekauft, falls Kratinos im Rausch wieder einmal anfangen sollte, mit Gegenständen um sich zu werfen. Meine Aufgabe bestand darin, Ganymed zu spielen und Wein einzuschenken, und mein Onkel lud als weitere Gäste einen Haufen alter Freunde ein, die allerhand vertragen konnten. Wie üblich wurde Kratinos einstimmig zum König des Gastmahls ernannt (das bedeutet, er hatte das Recht, die Trinklieder und Gesprächsthemen auszuwählen und zu verkünden, wer als erster singen oder sprechen sollte), und das Festmahl wurde unter Mißachtung sämtlicher Tischmanieren im Nu verschlungen. Daraufhin mußte ich vortreten und meine Szene vorspielen, was mir auch hervorragend gelang.
    Wie ein Thunfisch schluckte Kratinos den Köder und fuchtelte sofort wild mit den Händen herum. »Wenn doch nur alle Wahlberechtigten in Athen solch einen gesunden Menschenverstand hätten wie dieser scharfsinnige Bengel!« legte er los, wobei er seinen Wein über den Chiton meines Onkels verschüttete und mit der anderen Hand gleichzeitig den Hals der Amphore nach unten zog, die ich gerade über seinen Kelch hielt.
    »Wenn diese Schwachköpfe den ersten Preis einem Stück zusprechen, das fast ausschließlich aus obszönen und ehrenrührigen Angriffen auf eine Person besteht, sollte man eigentlich meinen, daß sie diesen Mann nicht mögen«, zeterte er, bebend vor Entrüstung. »Das ist doch wohl logisch. Aber natürlich nicht in dieser erbärmlichen Stadt. Alle Jahre wieder bringe ich Perikles auf die Bühne, und diese Trottel im Publikum machen sich auf seine Kosten vor Lachen in die Hose. Dann gehen sie nach Hause, ziehen sich saubere Klamotten über und versammeln sich, um ihn für eine weitere Amtszeit zu
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