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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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trennen.«
    Kratinos grinste, wodurch die wenigen noch im Mund verbliebene Zähne zum Vorschein kamen, und sagte: »Also gut, dann hört mir genau zu.«
    Auf diese Weise gehörte ich zu den ersten vier Menschen, die jemals die große Rede aus dem Stück Die Löwen gehört haben, in dem Perikles’ Abstammung, Empfängnis und Geburt liebevoll und äußerst subtil in allen Einzelheiten beschrieben wird. Diese Komödie ist wirklich das unverschämteste Theaterstück, das Kratinos jemals geschrieben hat, und wird selbst dann noch bekannt sein, wenn alles, was ich zu Papier gebracht habe, schon längst vergessen ist. Kratinos erzählte später, er habe das gesamte Stück in einem Zug verfaßt, während ihm von einem Barbier ein besonders störendes und an einer recht ungünstigen Stelle sitzendes Furunkel entfernt worden sei. Natürlich brachen wir bei seinem Vortrag alle in schallendes Gelächter aus und mußten uns Kissen in den Mund stopfen, um nicht vor Lachen zu ersticken. Der große Dichter hingegen saß mit einem Gesicht da, das so starr wie der Griff einer Lanze war, und trug jede Zeile in makellosem Sprechrhythmus vor. Nachdem er seine Darbietung beendet hatte, wurde ihm der Wein aus Rhodos eingeschenkt, und kurz darauf kippte er einfach um. Natürlich hatte mein Onkel recht gehabt: Wenn überhaupt, dann mochte ich Perikles nach diesem Vortrag mehr als je zuvor, und sei es auch nur, weil er mich so herrlich unterhalten hatte. Bis zum heutigen Tag bin ich der Überzeugung, daß die Komödie nur sehr geringen Einfluß auf jenen Teil des menschlichen Gehirns hat, der politische Entscheidungen trifft. Zeus allein weiß, was überhaupt Einfluß darauf hat.
    Nicht lange nach dieser Abendgesellschaft starb Perikles an der großen Pest, und tatsächlich war Kratinos noch Monate später untröstlich – er hatte das Gefühl, daß er von Perikles schon wieder hereingelegt worden war. Denn bevor er als Komödiendichter überhaupt die Gelegenheit gehabt hatte, seinen Feind wirklich vor aller Welt niederzumachen, hatte sich dieser schon still und heimlich davongestohlen. Kratinos mußte die gerade fertiggestellte Komödie zerreißen, die, wie er schwor, das Beste gewesen sei, was er jemals geschrieben habe. Allerdings fing er umgehend mit einem neuen Stück an, in dem Perikles den Totenrichtern vorgeführt wird, die ihn zu den furchtbarsten Strafen verurteilen, bei denen größtenteils Pferdemist eine herausragende Rolle spielt. Doch beendete er die Arbeit an dieser Komödie noch vor ihrer Fertigstellung. Statt dessen schrieb er eine armselige und unbedeutende Farce über Herakles und Alkestis, die er in wenigen Tagen verfaßte und erst kurz vorm Anmeldeschluß zu den Festspielen vollendete. Zu Kratinos’ eigenem unbeschreiblichen Entsetzen gewann diese Komödie bei der Lenaia jenes Jahres den ersten Preis.

2. KAPITEL

     
    Ich glaube, nun ist es für mich langsam an der Zeit, meine großspurige Behauptung am Anfang dieses Buchs zu rechtfertigen, ich sei Augenzeuge der außergewöhnlichsten Ereignisse unserer Stadtgeschichte gewesen, und Ihnen von meinen Erfahrungen mit der großen Pest zu erzählen. Schließlich dürften Sie sich wenigstens dafür interessieren, selbst wenn Sie nichts für Politik oder Theater übrig haben, und wir sollten deshalb das Beste daraus machen. Bis auf eine Ausnahme handelt es sich hierbei um das interessanteste aller Erlebnisse, von denen mein Leben geprägt wurde. Ich kann also gleich mit der Beschreibung loslegen und muß nicht unbedingt besonders witzig oder geistreich sein, um Ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, wodurch mir alles sehr viel leichter fallen wird.
    Wohlgemerkt: Nur weil ein Ereignis von großer historischer Bedeutung ist, folgt daraus noch lange nicht zwingend, daß es auch großen Einfluß auf das Leben der Menschen hatte, die zur fraglichen Zeit am Ort des Geschehens waren. So erinnere ich mich aus meiner Kindheit an einen sehr alten Mann, der in unserem Ort lebte und sich als Jugendlicher beim Überfall der Perser gerade in Athen aufgehalten hatte. Bei einem jungen Mann sollte man eigentlich annehmen, der Anblick der niedergebrannten Stadt und der dem Erdboden gleichgemachten Tempel der Götter hätte tiefgreifende Auswirkungen auf seine Persönlichkeit und weitere Entwicklung haben müssen, doch traf das in seinem Fall überhaupt nicht zu. Er verdingte sich als Grabräuber und war nach der allgemeinen Evakuierung nur deshalb nach Athen zurückgekehrt, um nachzusehen, ob der
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