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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg
Autoren: Thomas Mann
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Stapelreihen die Steige des Bahnhofs bedeckte, – des wimmelnden Bahnhofs, in dessen Höhe brenzlige Schwüle von unten heraufzuschlagen schien, – und Hans stürzte mit. Im Tumult umarmte ihn Lodovico, – buchstäblich, er schloß ihn in seine Arme und küßte ihn wie ein Südländer (oder auch wie ein Russe) auf beide Wangen, was unseren wilden Reisen {1080} den in aller Bewegung nicht wenig genierte. Aber fast hätte er die Fassung verloren, als Herr Settembrini ihn im letzten Augenblick mit Vornamen, nämlich »Giovanni« nannte und dabei die im gesitteten Abendland übliche Form der Anrede dahin fahren und das Du walten ließ!
    »E così in giù,« sagte er, – »in giù finalmente! Addio, Giovanni mio! Anders hatte ich dich reisen zu sehen gewünscht, aber sei es darum, die Götter haben es so bestimmt und nicht anders. Zur Arbeit hoffte ich dich zu entlassen, nun wirst du kämpfen inmitten der Deinen. Mein Gott, dir war es zugedacht und nicht unserm Leutnant. Wie spielt das Leben … Kämpfe tapfer, dort, wo das Blut dich bindet! Mehr kann jetzt niemand tun. Mir aber verzeih’, wenn ich den Rest meiner Kräfte daransetze, um auch mein Land zum Kampfe hinzureißen, auf jener Seite, wohin der Geist und heiliger Eigennutz es weisen. Addio!«
    Hans Castorp zwängte seinen Kopf zwischen zehn andere, die den Rahmen des Fensterchens füllten. Er winkte über sie hin. Auch Herr Settembrini winkte mit der Rechten, während er mit der Ringfingerspitze der Linken zart einen Augenwinkel berührte.
    ***
    Wo sind wir? Was ist das? Wohin verschlug uns der Traum? Dämmerung, Regen und Schmutz, Brandröte des trüben Himmels, der unaufhörlich von schwerem Donner brüllt, die nassen Lüfte erfüllt, zerrissen von scharfem Singen, wütend höllenhundhaft daherfahrendem Heulen, das seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen beendet, von Stöhnen und Schreien, von Zinkgeschmetter, das bersten will, und Trommeltakt, der schleuniger, schleuniger treibt … Dort ist ein Wald, aus dem sich farblose Schwärme ergießen, die laufen, fallen und springen. Dort zieht eine Hügelzeile sich vor dem fernen Brande hin, dessen Glut sich manchmal zu wehenden {1081} Flammen sammelt. Um uns ist welliges Ackerland, zerwühlt, zerweicht. Eine Landstraße läuft kotig, mit gebrochenen Zweigen bedeckt, dem Walde gleich; ein Feldweg, zerfurcht und grundlos, schwingt sich von ihr im Bogen gegen die Hügel hin, Baumstöcke ragen im kalten Regen, nackt und entzweigt … Hier ist ein Wegweiser, – unnütz ihn zu befragen; Halbdunkel würde uns seine Schrift verhüllen, auch wenn das Schild nicht von einem Durchschlage zackig zerrissen wäre. Ost oder West? Es ist das Flachland, es ist der Krieg. Und wir sind scheue Schatten am Wege, schamhaft in Schattensicherheit, und keineswegs gesonnen, uns in Prahlerei und Jägerlatein zu ergehen, aber dahergeführt vom Geist der Erzählung, um von den grauen, laufenden, stürzenden, vorwärts getrommelten Kameraden, die aus dem Walde schwärmen, einem, den wir kennen, dem Weggenossen so vieler Jährchen, dem gutmütigen Sünder, dessen Stimme wir so oft vernahmen, noch einmal ins einfache Angesicht zu blicken, bevor wir ihn aus den Augen verlieren.
    Man hat sie herangeholt, die Kameraden, um dem Gefechte letzten Nachdruck zu geben, das schon den ganzen Tag gedauert hat, und das dem Wiedergewinn jener Hügelstellung und der dahinterliegenden brennenden Dörfer gilt, die vor zwei Tagen an den Feind verloren gingen. Es ist ein Regiment Freiwilliger, junges Blut, Studenten zumeist, nicht lange im Felde. Sie wurden alarmiert in der Nacht, sie fuhren mit der Bahn bis zum Morgen und marschierten im Regen bis zum Nachmittag auf schlimmen Wegen, – auf gar keinen Wegen, die Straßen waren verstopft, es ging durch Äcker und Moor, sieben Stunden lang, im schwergesogenen Mantel, mit Sturmgepäck, und das war kein Lustwandel; denn wollte man nicht die Stiefel verlieren, so mußte man fast bei jedem Schritte gebückt mit dem Finger in die Lasche greifen und den Fuß daran aus dem quatschenden Grunde ziehen. So haben sie eine Stunde gebraucht, um über eine kleine Wiese zu kommen. Nun sind sie {1082} da, ihr junges Blut hat alles geschafft, ihre erregten und schon erschöpften, aber aus tiefsten Lebensreserven in Spannung gehaltenen Körper fragen dem vorenthaltenen Schlaf, der Nahrung nicht nach. Ihre nassen, mit Schmutz bespritzten, vom Sturmband umrahmten Gesichter unter den grau bespannten,
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