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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg
Autoren: Thomas Mann
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Respekt zu sagen, der die Grundfesten der Erde erschütterte, für uns aber der Donnerschlag, der den Zauberberg sprengt und den Siebenschläfer unsanft vor seine Tore setzt. Verdutzt sitzt er im Grase und reibt sich die Augen, wie ein Mann, der es trotz mancher Ermahnung versäumt hat, die Presse zu lesen.
    Sein mittelländischer Freund und Mentor hatte dem immer ein wenig abzuhelfen gesucht und es sich angelegen sein lassen, das Sorgenkind seiner Erziehung über die unteren Vorgänge in großen Zügen zu unterrichten, hatte aber wenig Ohr bei einem Schüler gefunden, der sich zwar von den geistigen Schatten der Dinge regierungsweise das eine und andere träumen ließ, der Dinge selbst aber nicht geachtet hatte und zwar aus der Hochmutsneigung, die Schatten für die Dinge zu nehmen, in diesen aber nur Schatten zu sehen, – weswegen man ihn nicht einmal allzu hart schelten darf, da dies Verhältnis nicht letztgültig geklärt ist.
    Es war nicht mehr so, wie einst, daß Herr Settembrini, nachdem er plötzliche Klarheit hergestellt hatte, an dem Bette des horizontalen Hans Castorp saß und in Dingen des Todes und des Lebens berichtigend auf ihn einzuwirken suchte. Umgekehrt saß nun dieser, die Hände zwischen den Knien, an dem Bette des Humanisten im kleinen Kabinett oder an seinem Tagesruhelager im separierten und traulichen Mansardenstudio mit den Carbonarostühlen und der Wasserflasche, leistete ihm Gesellschaft und lauschte höflich seinen Erörterungen der {1076} Weltlage, denn nicht oft mehr war Herr Lodovico auf den Beinen. Naphtas krasses Ende, die terroristische Tat des scharf verzweifelten Disputanten, hatte seiner empfindsamen Natur einen harten Stoß versetzt, er konnte sich nicht davon erholen, unterlag seither großer Schwäche und Hinfälligkeit. Seine Mitarbeit an der »Soziologischen Pathologie« stockte, das Lexikon aller Werke des schönen Geistes, die das menschliche Leiden zum Gegenstande hatten, kam nicht mehr vom Fleck, jene Liga wartete vergebens auf den betreffenden Band ihrer Enzyklopädie, Herr Settembrini war gezwungen, seine Mitwirkung an der Organisation des Fortschritts aufs Mündliche zu beschränken, und dazu eben boten Hans Castorps freundschaftliche Besuche ihm eine Gelegenheit, die er ohne sie ebenfalls hätte entbehren müssen.
    Er sprach mit schwacher Stimme, aber viel, schön und von Herzen über die Selbstvervollkommnung der Menschheit auf gesellschaftlichem Wege. Seine Rede ging wie auf Taubenfüßen, aber bald, wenn er etwa von der Vereinigung der befreiten Völker zum allgemeinen Glücke sprach, so mischte sich – er wollte und wußte es wohl selber nicht – etwas wie Rauschen von Adlersschwingen hinein, und das machte zweifellos die Politik, das großväterliche Erbe, das sich mit dem humanistischen Erbe des Vaters in ihm, Lodovico, zur schönen Literatur vereinigt hatte, – genau wie Humanität und Politik sich vereinigten in dem Hoch- und Toastgedanken der Zivilisation, diesem Gedanken voll Taubenmilde und Adlerskühnheit, der seinen Tag erwartete, den Völkermorgen, da das Prinzip der Beharrung würde aufs Haupt geschlagen und die heilige Allianz der bürgerlichen Demokratie in die Wege geleitet werden … Kurzum, hier gab es Unstimmigkeiten. Herr Settembrini war humanitär, aber zugleich und eben damit, halb ausgesprochen, war er auch kriegerisch. Er hatte sich beim Duell mit dem krassen Naphta wie ein Mensch benommen, im großen aber, {1077} wo die Menschlichkeit sich begeisterungsvoll mit der Politik zur Sieges- und Herrschaftsidee der Zivilisation verband und man die Pike des Bürgers am Altar der Menschheit weihte, wurde es zweifelhaft, ob er, unpersönlich, gemeint blieb, seine Hand zurückzuhalten vom Blute; – ja die inneren Umstände bewirkten, daß in Herrn Settembrinis schöner Gesinnung das Element der Adlerskühnheit mehr und mehr gegen das der Taubenmilde durchschlug.
    Nicht selten war sein Verhältnis zu den großen Konstellationen der Welt zwiespältig, von Skrupeln gestört und verlegen. Neulich, zwei oder anderthalb Jährchen zurück, hatte das diplomatische Zusammenwirken seines Landes mit Österreich in Albanien sein Gespräch beunruhigt, dies Zusammenwirken, das ihn erhob, da es gegen das lateinlose Halbasien, gegen Knute und Schlüsselburg gerichtet war, und das ihn quälte eben als Mißbündnis mit dem Erbfeinde, dem Prinzip der Beharrung und der Völkerknechtschaft. Vorigen Herbst hatte die große Leihgabe Frankreichs an Rußland zum
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