Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Eintreffen am Zielort fertig gewesen.
Er war in seinem altehrwürdigen Renault über die kleinen Straßen gefahren, durch die erstaunlich leere und für November sehr grüne Hecken- und Gehölzlandschaft. Er hatte den Wagen unter dem Bahnhof abgestellt, in dem riesigen Parkhaus, das noch nach Farbe und feuchtem Zement roch, und war als Erster zum Treffen erschienen. Auf seiner Armbanduhr war es zwei Minuten nach vier, als er sich im Parisien niederließ. Er hatte den in seinen Augen für diesen besonderen Sonntag idealen Tisch gefunden, in einer Ecke beim Eingang, direkt am Fenster.
Er bestellte bei einer Rothaarigen, die gerade von einem Lebensalter ins nächste und, wie er angesichts ihrer Miene vermutete, von einer üblen Beziehung zur nächsten überging, einen Liter guten Cidre mit zwei typischen Apfelweintassen. Van würde erst in zwanzig Minuten kommen, deshalb schlug er den ersten Band von Perros’ Papiers collés auf. Er hatte absichtlich ein fragmentarisches Werk mitgenommen, das keine beständige Aufmerksamkeit verlangte. Doch vergebens: Hier im Parisien gelang es ihm genauso wenig wie abends zuvor auf dem Sofa, mehr als drei Zeilen zu lesen. Schlimmer noch, in Wirklichkeit konnte er sogar acht oder zehn Zeilen lesen, aber ihm war inzwischen aufgegangen, dass er dem, was seine Augen erfassten, nicht mehr folgen konnte. Er war anderswo mit seinen Gedanken. Er hörte, wie abends zuvor, wie hundert Mal während seiner Fahrt nach Rennes die heisere, grölende Stimme: »Ja, Le Gall, der liebt die guten Romane!« Er hatte Mühe zu atmen und war froh, dass er saß.
Er hatte seine erste Tasse Cidre intus und las gerade zum dritten Mal »Die Bilder denken, die Sprache arbeitet«, als er sah, wie Ivan auf der Rolltreppe auftauchte, den Parisien erblickte und sich mit einer Hand den Schal vom Hals wickelte, bevor er das Café betrat. Van hatte ihm zwar gestanden, er sei nicht mehr weit von den fünfzig, aber mit seinen verschlissenen Klamotten, dem wilden Lockenschopf und dieser für Kurzsichtige typischen Haltung sah er immer noch aus wie ein übernächtigter Student.
Armel erhob sich von seinem Stuhl und ging ihm entgegen. Er holte ihn an seinen Tisch und nötigte ihn auf den Platz gegenüber.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Ivan. »Ich hätte nie gedacht, dass wir Sie der geringsten Gefahr aussetzen würden. Bislang hatte man es nur auf Francesca und mich abgesehen. Das war normal. Ich war ganz sicher, dass für Sie keinerlei Gefahr bestand.«
Armel zog die Nase kraus.
»Im Grunde genommen ist mir nichts weiter passiert, als dass ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Mordsschiss gehabt habe.« Er sah auf die Armbanduhr. »Wir werden uns wehren. Mit welchem Zug wollen Sie zurückfahren?«
Van hatte gut anderthalb Stunden Zeit. Und er übernahm den Hauptredeanteil. Denn auch er hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan.
»Ich erkläre Ihnen, warum.« Er senkte die Stimme. »Nach Ihrem Anruf überstürzten sich die Ereignisse. Aber ich fange mit dem an, was ich Ihnen schon am Telefon angedeutet habe. Die Drohung, die Ihnen auf dem Steilfelsen zugeschrien wurde, bekam auch Brother Brandy zu hören, am Abend des 7. November. Brother«, Van beugte sich über den Tisch und flüsterte nah an Le Galls Ohr, »wird von vielen von uns für den größten lebenden Prosaisten Frankreichs gehalten.«
»Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen«, sagte Armel.
»Bitte behalten Sie Ihre Vermutung für sich. Keine Namen. Nicht hier. Brother lebt in einem gottverlassenen Nest in den Bergen. Vor zehn Tagen rief er mich an. Er bat mich, ihn in Lyon im Krankenhaus zu besuchen.«
Armels Kopf zuckte nach oben.
»Er wird es schaffen«, sagte Van.
Brother Brandy wurde wegen einer vorher nur latenten Leberzirrhose behandelt, die plötzlich zum Ausbruch gekommen war. Den Ärzten gegenüber hatte er sich ausweichend geäußert und von einem feuchtfröhlichen Abend gesprochen. Das konnte nach Meinung der Fachleute schon reichen. Doch Van hatte er erzählt, dass er bewusstlos im Wald gelegen habe, allein, vom Abend des 7. November bis zum frühen Nachmittag des 9., also eine Nacht, einen Tag, eine Nacht und einen halben Tag.
»Ich muss ein wenig in die Vergangenheit zurückgehen«, sagte Van. »Brother war in einer schlechten Phase. Er ist ein Genie, da wären Sie mit mir einer Meinung, wenn Sie wüssten, um wen es sich handelt. Aber er macht immer wieder sehr lange unfruchtbare Phasen durch, in denen er nichts zustande
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