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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Autoren: Laurence Cossé
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bringt. Das macht ihn verrückt. Das sagte er mir selbst. Nur wenige wissen davon. In solchen Momenten sucht er im Alkohol Trost oder vielmehr Ablenkung und verfällt in eine Art Indolenz.«
    »In-dolentia«, sagte Armel. »Er will sich vor dem Schmerz des Leidens an sich selbst retten.«
    »Da spricht der alte Lateiner.« Van lächelte. »In den letzten Monaten fand Brother Vergessen im Alkohol und einen Hoffnungsschimmer bei Stendhal. Es ist allgemein bekannt, dass die Kartause von Parma in zweiundfünfzig Tagen geschrieben wurde, kurz vor Weihnachten 1838. Nicht allgemein bekannt ist jedoch, dass Stendhal damals fünfundfünfzig Jahre alt war und in den zehn Jahren davor nichts Gutes zustande gebracht hatte. Das Pseudonym, das sich Brother Brandy ausgesucht hat, war der Spitzname, den Stendhal einem englischen Jugendfreund, Edward Edwards, gegeben hatte. Es könnte durchaus sein, dass er den beiden auch als brüderliche Bezeichnung für den Alkohol diente.
    In den Jahren von 1830 bis 1838 fängt Stendhal alle möglichen Texte an und bringt nichts zu Ende. Rot und Schwarz erscheint 1830. Stendhal ist siebenundvierzig Jahre alt. Danach kommt er nicht weiter.
    Er fängt an, Minna von Wangel zu schreiben, hört aber nach fünfzig Seiten auf. Er wird zum Konsul in Italien ernannt. Und bläst da Trübsal. Er schreibt die ganze Zeit, und die ganze Zeit nichts zu Ende. Er versucht sich daran, sein Leben zu erzählen, schreibt Erinnerungen auf. Er skizziert mehrere Romane. Mit Lucien Leuwen kommt er ziemlich weit. Doch an jedem Buch, das er in Angriff nimmt, verliert er die Lust.
    1836 ersucht er um einen Urlaub, mit Erfolg. Er kehrt nach Paris zurück. Glücklich, wieder in der Hauptstadt zu sein, schreibt er Artikel und Novellen und hat jede Menge Projekte. 1837 greift er die Gestalt der Minna wieder auf, er macht sich noch einmal an den Roman und beginnt mit einer langen Einleitung, die nach seinem Tod unter dem Titel Rosa und Grün erscheinen wird. Sie ist wie der Beginn des Buches, zu dem Minna von Wangel die Skizze war. Stendhal schreibt hundertzweiundsiebzig Seiten, und dann bricht er wieder ab. Aus seinen Arbeitsnotizen weiß man, dass er diesen Roman in zwei je vierhundertfünfzigseitigen Bänden schreiben wollte.
    1838 veröffentlicht er die Reisen in Südfrankreich und in verschiedenen Zeitschriften mehrere Novellen: Vittoria Accoramboni, Die Cenci, Die Herzogin von Palliano . Er beginnt mit der Äbtissin von Castro . Anfang September kommt ihm die Idee zur Kartause . Am 4. November macht er sich ans Werk. Am 26. Dezember ist er damit fertig.
    Ohnmacht, Zweifel, die quälende Angst, nichts Gutes mehr schreiben zu können – so sah Brothers Leben in den letzten Jahren aus. Ich weiß nichts Genaueres über die Manuskripte, die er begonnen und dann zur Seite gelegt hat. Aber er hat mir gesagt, auf Stendhal könne er nicht mehr verzichten. Immer wieder lese er seine Romane, seine Biografie, seine Briefe, seine privaten Schriften. Und das alles, weil er auf den Tag warte, an dem eine Art Kartause von ihm Besitz ergreifen würde, oder er von ihr.
    Brother hat nie anders geschrieben als in einer Ekstase. Zwischen diesen Zuständen wartet er. Je länger er warten muss, desto schlechter geht es ihm. Dieses Jahr hat er sein Dorf nicht verlassen. Er sprach nur mit den Menschen, die bis zu ihm hinaufkamen, und er hat mir gesagt, dass es nur Frauen waren, die zu ihm kamen. Er war nicht immer nett zu ihnen.«
    Er hatte eine Tätigkeit beibehalten, eine einzige. Van wusste es auch erst seit dem Gespräch in Lyon, das nun drei Tage zurücklag. Einmal in der Woche fuhr Brother nach Chambéry. Er durchquerte die ganze Stadt und hielt erst in einer Vorstadt. Jeden Mittwoch veranstaltete er etwas, das die Vierte-Welt-Hilfsorganisation als Straßenbibliothek bezeichnet. Das Genie, der beste Prosaist seiner Generation, war in dieser kulturellen Wüste nur unter seinem Vornamen bekannt. Vor einem der Hochhäuser breitete er eine Decke aus, entweder auf einem schütteren Grünstreifen oder, wenn es regnete, in einer Eingangshalle, und dann kamen die Kinder zu ihm. Er brachte immer einen Koffer voller Bücher mit. Die Kinder, die lesen konnten, bedienten sich daraus. Den anderen las Brother vor.
    »Das passt aber gar nicht zu dem Bild, das Sie vorher von ihm gezeichnet haben«, wandte Le Gall ein. »Vom bärbeißigen Menschenfeind.«
    »Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass die meisten Menschen in ihrem Inneren jemanden haben, der
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