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Der Wolfstrank

Der Wolfstrank

Titel: Der Wolfstrank
Autoren: Jason Dark
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brannte.
    Das Tiergesicht bewegte sich nicht, so dass ihr schon der Verdacht kam, dass es sich um einen künstlichen Kopf handelte. Er starrte in das Zimmer, und Marlene King konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Botschaft da transportiert wurde. Seine Schnauze stand halb offen, und die Zunge war vorgeschoben. Sie sah jetzt auch das Fell, dass ihr sehr dunkel vorkam, obwohl es eigentlich grau war, wie bei den meisten Wölfen. Aber die waren ausgestorben. Es gab sie nicht mehr in diesem Land. Vielleicht im Osten Europas, aber nicht in England. Hier nur im Zoo oder in den Freigehegen.
    Das brachte sie auf eine Idee. Es konnte sein, dass aus einem Zoo oder Tierpark ein Wolf ausgebrochen war und sich nun eine neue Umgebung suchte. Das würde den Besuch erklären. Auf der anderen Seite hätten die Behörden die Menschen warnen müssen, wenn diese Dinge passierten, aber auf sie konnte man sich auch nicht verlassen, wie man anhand der Seuchenmeldungen erlebt hatte.
    »Siehst du ihn auch, Großmutter?«
    »Ja«, flüsterte Marlene.
    »Er ist echt geil, nicht?«
    »Hör auf, Lucy, sag so etwas nicht. Es ist schlimm genug, dass er sich in unserer Nähe aufhält. Da will ich das nicht hören. Wir werden die Polizei rufen müssen. Das Tier muss wieder eingefangen und an seinen Platz gebracht werden.«
    »Niemand kann ihn fangen!«
    Marlene King war von dieser Bemerkung so überrascht, dass sie das Tier vergaß und ihre Enkelin anschaute. »Wie kannst du so etwas sagen, Lucy?«
    »Weil ich es weiß.«
    »Woher?«
    »Er hat es mir gesagt. Er hat mir mitgeteilt, dass ihn niemand fangen kann, wenn er es nicht will. Ja, Großmutter, so ist das. Ich habe dir schon mal gesagt, dass er etwas Besonderes ist. Für mich ist er ein Freund. Ich spüre ihn genau. Er ist keine Bestie, er ist einfach megageil.«
    »Hör auf, das will ich nicht hören.«
    Lucy ließ sich nicht beirren. »Ich mag ihn. Ich habe keine Freunde, aber er ist einer.«
    Marlene erschrak über die Bemerkung. »Was willst du denn damit sagen, Lucy?«
    »Das weißt du doch, Großmutter. Ich habe keine Angst vor ihm. Ich kann sogar mit ihm sprechen, denn er ist kein echter Wolf, sondern zugleich noch ein Mensch. Für mich ist er beides. Auf der einen Seite Mensch, auf der anderen Wolf.«
    Marlene King sagte nichts. Sie wusste einfach nicht, was sie davon halten sollte. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. So kannte sie ihre Enkelin nicht. Bisher hatte sie Lucy immer für ein normales Kind gehalten, das musste sie jetzt revidieren. Lucy war kein normales Kind. Sie hatte sich in etwas verrannt, das niemand nachvollziehen konnte, und wenn sie so sprach, dann fürchtete sich Marlene beinahe vor ihrer Enkelin.
    »He, Großmutter, was schaust du mich so an? Was hast du?«
    »Nichts, Kind, nichts.«
    »Doch, du willst doch etwas sagen.«
    »Später.«
    Lucy lächelte und fragte: »Kannst du mich denn nicht verstehen, Großmutter? Es ist eben alles nicht so, wie du es dir vorstellst. Manchmal ist das Leben richtig verrückt. Ich finde es toll. Ich mag den Wolf einfach.«
    »Ja, das habe ich gemerkt«, gab die Frau zu und legte ihre Hand auf die ihrer Enkelin. »Aber du musst auch begreifen, dass ich anders darüber denke. Ich akzeptiere auch, das du den Wolf magst, aber ich frage mich, ob das im umgekehrten Fall auch so ist. Genau das glaube ich nämlich nicht.«
    »Wie kannst du das sagen?«
    »Erfahrungen, Kind.«
    »Nein, Das ist aber nicht so. Du hast Unrecht, Großmutter, wirklich Unrecht. Der Wolf mag mich, und ich mag ihn.«
    Marlene King war beinahe verzweifelt. Sie wusste nicht, wie sie ihre Ansichten dem Mädchen näherbringen sollte. Es schien zwischen ihnen eine Sperre aufgebaut worden zu sein. Zu unterschiedlich waren ihre Meinungen, und sie glaubte auch nicht, dass die beiden zu einem Konsens kommen würden.
    Der Wolf war eine Tatsache, das wusste sie jetzt. Und sie wusste auch, dass er nicht länger in der Umgebung herumstreunen durfte. Dafür würde sie sorgen. Noch in dieser Nacht wollte sie sich mit der Polizei in Verbindung setzen, damit man sich auf eine Suchaktion vorbereiten konnte.
    Das wollte sie auch ihrer Enkelin sagen, obwohl Lucy bestimmt sauer darüber war. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Noch einmal schaute sie zum Fenster hin – und zuckte wieder zusammen, denn der Wolfskopf war verschwunden.
    »Weg!« flüsterte sie, »er ist weg.« Sie wischte über ihre Augen, als wollte sie die letzten Reste des Spuks
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