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Der Wolfstrank

Der Wolfstrank

Titel: Der Wolfstrank
Autoren: Jason Dark
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gehen...«
    Marlene wusste nicht, ob ihre Enkelin die Worte hörte. Und wenn, dann ließ sie sich nicht davon aufhalten.
    Jetzt stand sie vor der Tür.
    »Sie dreht sich nicht mal um!«, dachte Marlene. »Sie dreht sich nicht mal zum Abschied um. Das ist verrückt und kaum zu begreifen. Sie hat alles vergessen, alles vergessen...«
    Vorwürfe überfluteten die Frau. Sie dachte plötzlich daran, was sie Lucy’s Eltern sagen würde, wenn jetzt etwas Schreckliches mit ihrem Kind passierte.
    Die Tür war immer von innen abgeschlossen. Lucy kannte sich aus. Sie drehte den Schlüssel zwei Mal rum.
    Dann zog sie die Tür auf.
    »Hi«, sagte sie und blieb auf der Schwelle stehen.
    Ein Traum, das ist nicht wirklich wahr, dachte Marlene. Das kann ich nicht nachvollziehen, es ist einfach zu unwahrscheinlich.
    Marlene wusste selbst nicht, welche Gedanken ihr da durch den Kopf schossen, aber dieser Albtraum hielt sie fest und ließ sie auch in den folgenden Minuten nicht los. So erlebte sie alles aus der Nähe mit und kam sich dabei trotzdem weit entfernt vor.
    Lucy begrüßte den Wolf wie einen guten Freund. Sie breitete die Arme aus und sagte mit schon leicht jubelnder Stimme: »Da bist du ja endlich. Ich habe schon sehnsüchtig auf dich gewartet.«
    Die Antwort bestand aus einem leisen Knurren. Es hörte sich nicht gefährlich an, sondern irgendwie zufrieden, als hätte auch das Tier nur auf diesen Zeitpunkt gewartet.
    Für Marlene King war das alles nicht zu begreifen. Sie hatte den unheimlichen Besucher auch nicht richtig sehen können, weil ihre Enkelin ihr einen Teil der Sicht nahm. Das änderte sich, als sich das Tier plötzlich aufrichtete.
    Der Wolf wuchs und wuchs. Marlene King wollte es nicht glauben. Er überragte ihre Enkelin bei weitem. Er stand auf seinen Hinterläufen. Der Körper kam Marlene riesig vor. Sie sah das hellere Fell am Bauch, den mächtigen Kopf, das Gesicht mit der Schnauze, die kalten gelben Augen, die Vorderläufe, die gebogen waren und in harten Krallen endeten, und sie sah auch die mörderischen Zähne, die jede Beute zerrissen. Das Gesicht des Wolfes war irgendwie breiter als das eines normalen Tieres. Es war verrückt und kaum nachzuvollziehen, aber Marlene King konnte sich vorstellen, dass sie innerhalb dieser Fratze noch etwas Menschliches entdeckte, auch wenn sie das nicht begreifen konnte.
    Sie begriff sowieso nichts mehr.
    Sie merkte nicht einmal, dass ihr Mund offen stand. So staunte sie das Geschöpf an, das einem Albtraum entsprungen sein musste.
    Und ihre Enkelin mochte den Albtraum. Sie ging auf ihn zu. Sie tänzelte dabei. Sie lachte, streckte der Kreatur ihre Hände entgegen, und der Wolf blieb weiterhin auf seinen Hinterläufen stehen. Er reckte sich so gut wie möglich, und in seinem Rachen bewegte sich eine breite Zunge.
    Dann endlich hatte Lucy ihn erreicht. Und sie tat das, was Marlene noch mehr erstaunte. Sie trat so dicht an ihn heran, dass sie ihn umarmen konnte. Fest schloss das junge Mädchen die Arme um den zottigen Körper der Kreatur, in dessen Kehle das Röcheln entstand und wie ein Kratzen aus dem Maul drang.
    Der Körper beugte sich nach vorn. Es sah so aus, als sollte Lucy erdrückt werden, aber sie blieb zitternd stehen. Doch dieses Zittern hatte nichts mit Angst zu tun. Es lag an der heißen Erwartung, die sich endlich für sie erfüllt hatte.
    Marlene King begriff die Welt nicht mehr. Sie erkannte ihre Enkelin nicht wieder, die ihren Kopf gegen das weiche Bauchfell drückte und die Wange daran rieb.
    Sie und das Tier waren zufrieden.
    Wie lange das ungleiche Paar auf der Stelle gestanden hatte, wusste Marlene nicht. Die Zeit gab es nicht mehr für sie. Ebenso wenig wie die normale Welt. Sie hatten sich entfernt, und Marlene King kam sich vor wie eine Person, die der Realität entflohen war, obwohl sie all das, was sie sah, als Realität erlebte.
    Der Wolf veränderte seine Haltung. Er verlagerte das Gewicht nicht mehr auf den Hinterläufen, sondern senkte seinen mächtigen Körper dem Boden entgegen. Er rutschte dabei an Lucy vorbei. Auch als er auf allen Vieren stand, konnte Marlene nur staunen, wie groß er war. Fast hätte ihre Enkelin auf ihm reiten können, so hochgewachsen war er.
    Und dann gingen sie weg! Einfach so.
    Marlene King kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
    Wolf und Mensch. Sie schritten nebeneinander her wie ein Liebespaar. Lucy hielt den rechten Arm ausgestreckt und kraulte dabei das Nackenfell des Tieres.
    Beide gingen auf dem direkten
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