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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Autoren: Bruno Preisendörfer
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nicht sagen, was der Freund nur allzu gut weiß und wir nur allzu gerne wissen möchten:
»Die Ehre gewisser Personen verbietet mir Ihnen die Ursachen zu melden, warum ich Leipzig verlassen.«
    Also steckte hinter dem Ausbruch aus Leipzig wie später hinter dem Aufbruch nach Sizilien doch eine unglückliche Liebe, dem Dementi in Mein Leben zum Trotz? Dem Mädchen, dessen Bildnis er später auf der Brust bis zum Monte Pellegrino trug, hatte er in Briefen geschworen, sie sei seine erste Liebe und würde seine letzte bleiben. Das zweite erwies sich als voreiliges Versprechen, sollte sich das erste als falsche Behauptung herausstellen? Hätte er in Mein Leben zugegeben, aus Leipzig mehr eines Mädchens als der Religion wegen fortgelaufen zu sein, hätte das auch das Eingeständnis bedeutet, zu seiner ersten großen Liebe bezüglich der »Anmutung zum Geschlecht« nicht aufrichtig gewesen zu sein.
    Einem normalen reifen Mann, der eben auch einmal jung war, wie es bei dieser Gelegenheit gern augenzwinkernd und schulterzuckend heißt, hätte das kaum das Herz bedrückt oder die Seele beschwert. Aber Seume, der in der Liebe so wenig Glück hatte wie im Leben, quälte sich lange und auf verdrehte Weise sogar gern damit.
    Einen ganz anderen Beweggrund für sein Fortgehen aus Leipzig nennt Seume in seinem ersten Brief an den verehrten Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt. Der Brief stammt vom Oktober 1786. Zu diesem Zeitpunkt war Seume schon längst ›welterfahren‹, wenn auch nicht ›kampferprobt‹ aus Halifax zurückgekehrt. Und er war aus dem hessischen Söldnerregiment desertiert, von preußischen Werbern aufgegriffen worden und diente seit drei Jahren zwangsweise als preußischer Soldat in Emden. Der Brief enthielt zwei Gedichte Seumes, war mit »Joh. Friedr. Normann« unterzeichnet und bittet den Empfänger:
»Stellen Sie sich einen jungen Menschen vor, dessen Herz gewiss gut, dessen Einbildungskraft aber mit schwärmerischen und überspannten Ideen erhitzt war. Ich lebte fast einzig von Stipendien. Der Schwung meiner Phantasie war immer hoch, aber leider, ohne mir angemessene Richtung. Was mich mit einem mäßigen Vermögen sehr glücklich und nützlich würde gemacht haben, machte mich ohne dasselbe ganz unglücklich.«
    Etwas Derartiges an Hohenthal zu schreiben wäre völlig unmöglich gewesen. In der Vorrede zum Spaziergang wiederum, diesem literarischen Resultat eines Ausbruchs, dessen wahre Motive nicht viel klarer sind als die seiner Flucht aus Leipzig, berichtet er über diese erste, sein gesamtes Leben verändernde Eskapade:
»Als ich als ein junger Mensch von achtzehn Jahren als theologischer Pflegling von der Akademie in die Welt hinein lief, fand man bei Untersuchung, dass ich keinen Schulfreund erstochen, kein Mädchen in den Klagestand gesetzt und keine Schulden hinterlassen […]; und man konnte nun den Grund der Entfernung durchaus nicht entdecken und hielt mich für melancholisch verirrt […] Dem Psychologen wird das Rätsel erklärt sein, wenn ich ihm sage, dass die Gesinnungen, die ich seitdem hier und da und vorzüglich in folgender Erzählung [ Spaziergang nach Syrakus ] geäußert habe, schon damals alle lebendig in meiner Seele lagen, als ich mit neun Talern und dem Tacitus in der Tasche auf und davon ging. Was sollte ein Dorfpfarrer mit diesen Gärungen?«
    Das drohende Dorfpfarrerschicksal hing direkt mit seiner Vermögenslosigkeit zusammen. Seume ging auf Abwege, um der ihm von Hohenthal bestimmten Zukunft aus dem Weg zu gehen.
    Dazu passen die Angaben, die Seume 1803 in einer Kurzvita für Friedrich von Matthison macht, dem Herausgeber einer vielbändigen Lyrischen Anthologie :
»Man wollte mit aller Gewalt mich zum Pfeiler der Kirche machen, aber mein Ideengang nahm eine ganz andere Richtung. In der Gärung wollte ich AD 1780 [richtig wäre 1781] nach Frankreich gehen, um dort irgend etwas zu lernen, das mir besser wäre als die Theologie. Da schickten mich die Hessen wider meinen Willen, aber nicht ganz wider meine Neigung nach Amerika.«
    Die Wendung »wider meinen Willen, aber nicht ganz wider meine Neigung« erklärt vielleicht, warum Seume bei der Beschreibung seiner Rekrutierung immer recht dunkel blieb. Der Plan wiederum, ihn »mit aller Gewalt« für den Kirchendienst zu rekrutieren, widerstrebte sowohl seinem Willen als auch seiner Neigung.
    Dem Gönner mochte er seinerzeit diese Auskunft über die Gründe seiner Flucht nicht zumuten. Es blieb nichts anderes übrig,
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