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Der Wächter des Herzens

Der Wächter des Herzens

Titel: Der Wächter des Herzens
Autoren: Françoise Sagan
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andeutete
und alles zusammen mit der gleichen Verachtung abtat.
    Verachtung ist ein starkes Wort, aber
es war Schlimmeres als nur Gleichgültigkeit.
    »Ja, dort unten. Ich verdiene mir damit
meinen Lebensunterhalt.«
    Ich begann nervös zu werden. Innerhalb
von drei Minuten war ich mir wegen dieses Unbekannten zuerst schäbig und dann
nutzlos vorgekommen. Denn was brachte mir dieses stupide Metier letzten Endes
anderes ein als soundso viele Dollar jeden Monat, die ich jeden Monat wieder
ausgab? Trotzdem war es unanständig, sich von diesem zweifellos unfähigen, dem
LSD ergebenen Herumtreiber solche Schuldgefühle suggerieren zu lassen. Ich habe
nichts gegen Rauschgifte, aber ich finde, man soll seine Neigungen nicht zur
Philosophie erheben, am allerwenigsten zu einer Philosophie, die alle
verachtet, die sich nicht zu ihr bekennen.
    »Seinen Lebensunterhalt verdienen...«
wiederholte er nachdenklich. »Seinen Lebensunterhalt verdienen...«
    »Das ist so üblich«, sagte ich.
    »Schade! Ich hätte gern in Florenz
gelebt, als es dort genug Leute gab, die andere unterstützten.«
    »Sie unterstützten nur Maler oder
Dichter. Betreiben Sie eine dieser Künste?«
    Er zuckte die Schultern.
    »Sie unterstützten vielleicht auch
Leute, die ihnen gefielen, aus keinem besonderen Grunde, umsonst.«
    Ich lachte zynisch, ganz Bette Davis.
    »Das können Sie auch heute und hier
haben.«
    Ich machte die gleiche Kopfbewegung
nach links wie er. Er schloß die Augen.
    »Ich sagte ›umsonst‹. Das ist
nicht umsonst.«
    Er sagte »das« mit so großem Nachdruck,
daß ich mir plötzlich eine Unmenge Fragen stellte, eine romantischer als die
andere. Was wußte ich eigentlich von ihm? Hatte er jemanden bis zur Raserei
geliebt? Oder was man so Raserei nennt und was mir immer als die einzig
vernünftige Form der Liebe erschienen war? Was hatte ihn wirklich unter die
Räder des Jaguar getrieben: der Zufall, das Rauschgift oder die Verzweiflung?
War er im Begriff, zugleich mit seinem Bein auch sein Herz auszuruhen,
auszukurieren? Und nahmen die Blicke, die er unverwandt auf den Himmel
richtete, dort ein Antlitz wahr? Zu meiner Bestürzung fiel mir ein, daß ich
diese Wendung in der Lebensgeschichte Dantes gebraucht hatte, einem
Monumentalfilm in Farbe, dem ich nur mit größter Mühe einen Hauch von Erotik
hatte verleihen können. Während der arme Dante, vor einem schlichten
mittelalterlichen Schreibpult sitzend, den Kopf von einem zerlesenen Manuskript
hob, ertönte von fernher eine leise Stimme: »Nehmen die Blicke, die er
unverwandt auf den Himmel richtet; dort ein Antlitz wahr?« Eine Frage, die sich
der Zuschauer selbst beantworten mußte und, wie ich hoffte, bejahte.
    Ich war also so weit gekommen, daß ich
dachte, wie ich schrieb, was mich entzückt haben würde, wenn ich den geringsten
Anspruch auf literarisches Format erheben dürfte oder das geringste Talent
hätte. Aber leider... Ich betrachtete Lewis. Er hatte die Augen wieder geöffnet
und musterte mich.
    »Wie heißen Sie?«
    »Dorothy. Dorothy Seymour. Habe ich
Ihnen das nicht gesagt?«
    »Nein.«
    Ich saß am Fußende seines Bettes,
durchs Fenster kam die Abendluft herein, diese Luft, die mit dem Geruch des
Meeres gesättigt ist, einem kräftigen Geruch, der sich, beinahe grausam in
seiner Beharrlichkeit, in den fünfundvierzig Jahren, die ich ihn schon atmete,
nicht verändert hatte. Wie lange noch sollte ich ihn begierig einsaugen, wie
lange würde es noch dauern, bis mir nur noch die sehnsüchtige Erinnerung an
vergangene Jahre, an Küsse und an die Wärme der Männer blieb? Ich mußte wohl
Paul heiraten, mußte dieses grenzenlose Vertrauen in meine Gesundheit, mein
moralisches Gleichgewicht aufgeben. Es ist leicht, sich wohl in seiner Haut zu
fühlen, solange noch jemand Lust verspürt, diese Haut zu berühren, sich an ihr
zu erwärmen. Aber dann? Ja, was dann? Dann kamen zweifellos die Psychiater, und
bei dem bloßen Gedanken daran wurde mir übel.
    »Sie sehen so traurig aus«, sagte
Lewis. Er nahm meine Hand und betrachtete sie. Auch ich betrachtete sie. Mit
einem unerwarteten, absonderlichen Interesse betrachteten wir gemeinsam meine
Hand: Lewis, weil er sie nicht kannte, ich, weil sie sich zwischen seinen
Fingern so verändert ausnahm. Sie sah wie ein Gegenstand aus, gehörte mir nicht
mehr. Nie hatte jemand auf so unverfängliche Weise meine Hand gehalten.
    »Wie alt sind Sie?« fragte er.
    Zu meiner großen Verwunderung hörte ich
mich wahrheitsgemäß antworten:
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