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Der Vollzeitmann

Titel: Der Vollzeitmann
Autoren: Achim Achilles
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als er den Kinderwagenfahrer überholte.

    Martin erschrak, als der Jogger überholte. Warum hatte dieser Mann die Hand gehoben? Ach ja, der Typ von der Tankstelle. Er versuchte, diese harten Kerle nicht zu bewundern, die ihr Sportprogramm sklavisch durchzogen. Eigentlich sollte er auch Sport machen. Fand Dorothea jedenfalls. Martin glaubte an die Macht des Gedankens und an seine Brille. Die war Markenzeichen genug. Ein übertriebener Körperkult konnte das Privileg der Unterschicht bleiben.
    Dorothea ging dreimal die Woche ins Fitnessstudio. Wollte sie plötzlich einen Muskelmann zum Gatten? Das konnte ja wohl nicht sein. Dorothea war nicht so. Sie war stolz auf ihren exklusiven Kerl mit der geschmackvoll-gewagten Retro-Brille, der ganz anders war als die anderen Männer, viel nachdenklicher und auch nachhaltiger irgendwie, ein moderner Mann, der sich um die Kinder kümmerte, dem seine Karriere nicht so wichtig war, der zu leben verstand, der heute Abend gemeinsam mit dem Miet-Koch ein formidables Vier-Gänge-Menü zaubern würde, wenn Dorotheas Chef aus dem Sender zum Essen kam.
    Martin hatte schon im Studium beschlossen, jede Art von zielloser Bewegung prollig zu finden. Intellektuelle schwitzen nicht. Sport war die billigste Art, sich Anerkennung zu verschaffen. Martin las lieber. Er sprach leise und bedächtig. So zwang man seine Zuhörer zur Konzentration.
    Martin hatte sich über Jahre einen Ruf als wandelnder Zitatenschatz mit angeschlossener Nachdenklichkeitsabteilung erworben. Damit war er konkurrenzlos in der Agentur und in ihrem Freundeskreis. Er hatte seinen USP gefunden. Laufen, golfen, segeln konnte jeder. Aber wer konnte Sloterdijk zitieren? Martin. Dass ausgerechnet Sloterdijk jetzt auch dem Sport huldigte, machte ihn allerdings etwas ratlos. Das war philosophischer Verrat.

    So weit wäre es nie gekommen, hätte Sloterdijk diesen Jogger gesehen in seinen engen Hosen. Martin fand Männer in Strumpfhosen peinlich. Nicht mal Robin Hood konnte die Dinger mit Anstand tragen. Vorne sah man genau, wie der Träger bestückt war, ob er sein Teil wie ein neurotischer Köter zwischen die Beine klemmte oder angeberisch wie ein Kreuzberger Kiez-Lümmel Richtung Nabel legte. Platt nach oben an den Bauch gepresst sahen Schwänze aus, als habe der Läufer eine schlecht gerupfte Wachtel in der Hose stecken. Martin wurde schlecht bei zu vielen physischen Details. Mit seinem Penis hatte er sich nie richtig angefreundet. Außerdem sah man unter Läufer-Leggings genau, welche Sorte Unterhose im Einsatz war. Der Jogger, der vor ihm immer kleiner wurde, hatte entweder einen String getragen oder gar nichts. Martin schüttelte sich.
    »Zu viel Körper-Information war eine Spielart des Proll-Terrors.«
    Noch schlimmer als die Unterhose war der Übergang von Hose zu Bein. Bei Frauen mit leicht gebräunter, sorgfältig rasierter und vor allem straffer Beinhaut sahen diese Laufstrumpfhosen ja ganz scharf aus. Männer dagegen mit weißen Beinen, schwarzen Haaren und ins Quarkige spielendem Bindegewebe sollten unbedingt die gute, alte Jogginghose aus Baumwolle tragen, gern auch in Grau, mit Schweißrändern. Wie Rocky - ehrlich und diskret. Zu viel Körper-Information war eine Spielart des Proll-Terrors.
    Martin blickte auf die Uhr und drehte. Um sechs Uhr wollte er wieder zu Hause sein. Vielleicht würde er ein Honigbrötchen schaffen und einen Blick ins Feuilleton, bevor Dorothea aufwachte. Martin liebte Rocky. Wenn er Sloterdijk
zitierte und gleich darauf Rocky, dann staunten immer alle. Rocky hätte niemals Strumpfhosen getragen oder über Epilation nachgedacht. Sloterdijk schon eher. Rocky boxte mit freiem Oberkörper und offenem Brusthaar. Solange Sportler edle Wilde waren, hatten sie ein zuverlässiges archaisches Ästhetikempfinden.
    Heute machten sich alle so nackt wie möglich. Radfahrer, Schwimmer, Boxer, alle rasierten sich von Kopf bis Fuß. Martin hatte sich noch keine abschließende Meinung zum Rasierwahn gebildet, der angeblich schon Teenager erfasste. Sollte er sich empören und Kulturwissenschaftler zum Exhibitionismustrieb zitieren? »Wir epilieren uns zu Tode« - war das ein gesellschaftlich relevanter Ansatz? Andererseits: Was war die ästhetische Alternative? Fell?
    In der Uni hatte er eine Freundin gehabt, Silke, die einen braunen Riesenbusch getragen hatte; Afrokugel im Schritt. Pausenlos hatte er Drahthaare im Mund gehabt. Manchmal hatte er geglaubt, Tierchen im Dickicht zu erkennen. Das mochte allerdings
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