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Der verwaiste Thron 02 - Verrat

Der verwaiste Thron 02 - Verrat

Titel: Der verwaiste Thron 02 - Verrat
Autoren: Claudia Kern
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ragten wie eingefrorene Wellen vor ihm auf. Felsen steckten darin, Hörner und aufgerissene, dampfende Tierleiber. Schwarzklaue stapfte durch den Schnee darauf zu, fuhr mit der Hand durch strohiges langes Fell und fühlte nach den Rippen unter dem Fleisch.
    »Morgen wird unser Volk essen«, sagte er.
    »Was ist mit Fleckfell?«, fragte Einohr.
    »Er steht nicht hier neben uns, also ist er tot.« Schwarzklaue riss ein Stück Fleisch aus einem Kadaver und hielt es dem Jungen hin. »Iss, solange es warm ist. Du wirst deine Kraft brauchen.«
    »Ja, Schwarzklaue.« Die Stimme des Jungen war so leise, dass er kaum zu verstehen war. Tränen schimmerten in seinen Augen, aber er nahm den Fleischbrocken und biss hinein, ohne zu weinen.
    »Gut so«, sagte Schwarzklaue. Er riss ein zweites Stück Fleisch heraus und aß es, schmeckte es jedoch kaum. Er hatte einen Jäger verloren, doch wahrscheinlich sein ganzes Volk gerettet. Das war der Preis, den der Norden ihm abverlangte, und er musste damit leben. Er dachte an den weißen Bullen, der alles verloren hatte, sein Volk, seine Krieger, nur nicht sein Leben.
    »Ich hätte ihn töten müssen.«
    Erst als Einohr »Warum?« fragte, fiel ihm auf, dass er laut gesprochen hatte.
    Schwarzklaue spuckte ein Stück Knorpel aus. »Weil er beim nächsten Mal nicht mehr davonlaufen wird.«
     
     
    Sie bauten einen Schlitten aus Schneebüffelhörnern, Sehnen und Haut und verluden einen Teil des ersten Kadavers darauf. Schwarzklaue spannte sich vor den Schlitten, Einohr blieb zurück, um die Beute – auf den ersten Blick waren es mehr als ein Dutzend Tiere – vor Coyoten und Raubvögeln zu schützen. Dann machte sich Schwarzklaue auf den langen Weg zum Lager.
    Er erreichte es am Nachmittag des zweiten Tages, als die untergehende Sonne den Schnee bereits orange färbte. Dungfeuer schickten dünne Rauchsäulen aus dem Tal empor, die zwischen den Bergen verwehten. Jäger liefen Schwarzklaue entgegen, klopften ihm auf den Rücken und beglückwünschten ihn zu seinem Jagdglück, obwohl er die Enttäuschung über die magere Beute in ihren Augen sah.
    »Es gibt noch mehr, viel mehr!«, rief er, als er sich die Halteschlaufen des Schlittens von den Schultern zog. »Morgen werden wir aufbrechen, um die Beute zu holen. Niemand wird in diesem Winter mehr hungern müssen.«
    Der Jubel, den er hörte, klang ebenso begeistert wie erleichtert. Männer, Frauen, Kinder und die zwei, drei Greise, die noch nicht den Mut gefunden hatten, hinaus in den Schnee zu ziehen und nie wiederzukommen, liefen auf ihn zu, um ihm zu danken. Er zwängte sich zwischen ihnen hindurch und ging an Schneehöhlen und kleinen gegerbten Zelten vorbei, um Fleckfells Mutter vom Tod ihres Sohnes zu unterrichten. Sie dankte ihm, dann weinte sie.
    »Schwarzklaue«, sagte Wolkenauge, einer der älteren Jäger, als er den schweren Fellvorhang hinter sich zufallen ließ und das Schneeloch verließ. »Jemand ist zu uns gekommen, um mit dir zu sprechen. Er wartet in deinem Zelt.«
    Schwarzklaue runzelte die Stirn. »Habe ich in letzter Zeit Kinder gezeugt?«
    »Ich glaube nicht, dass es darum geht. Am besten redest du selbst mit ihm.«
    Wolkenauge ließ ihn stehen. Schwarzklaue ging weiter. Es war nicht ungewöhnlich, dass sein Stamm Besuch von einem anderen bekam. Er führte das größte Volk des Nordens an und zeugte die meisten Nachkommen. Früher oder später kam jeder einmal zu ihm.
    Schwarzklaue stutzte, als er die Pferde sah, die mit Fellen bedeckt neben seinem Zelt angebunden waren. Es waren zwei, ein Reittier und eines, das Vorräte trug, die neben ihm an der Wand lehnten. Kein Volk des Nordens ritt auf Pferden. Man brachte sie zwar manchmal als Trophäen aus den Menschenländern des Südens mit, aber außer als Nahrung hatte man für sie keine Verwendung.
    Er schob die Felle, die vor seinem Eingang hingen, zur Seite und betrat das Zelt. Es lag im Halbdunkel. Dung glühte in einer offenen Feuerstelle, und ein Topf mit Shrakh'e – vergorener Walrossmilch – stand auf einem Metallgitter dicht darüber.
    Wäre der Geruch nicht gewesen, hätte Schwarzklaue den Mann, der in einen dunklen Umhang gehüllt an der Feuerstelle hockte, für einen Menschen gehalten. Er hatte Arme und Beine wie ein Mensch. Sogar seine Haut war dort, wo kurzes Haar sie nicht bedeckte, weiß und weich.
    »Wer bist du?«
    Der Mann drehte sich um. Sein Umhang blähte sich, brachte den Geruch des Südens mit. »Bist du Schwarzklaue?«, fragte er. Seine Stimme
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