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Der verwaiste Thron 02 - Verrat

Der verwaiste Thron 02 - Verrat

Titel: Der verwaiste Thron 02 - Verrat
Autoren: Claudia Kern
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letzten Tagen war ihr klar geworden, wie glücklich sie dort gewesen war.
    Auch wenn alles eine Lüge war , dachte sie, als sie sich unter einem tief hängenden Ast duckte. So wie Jonan eine Lüge war.
    Ana versuchte, so wenig wie möglich an ihn zu denken. Ihr Leibwächter, ihr Begleiter, ihr einziger Freund – für all das hatte sie Jonan gehalten. Doch er hatte sie hintergangen und belogen. Rückblickend fragte sich Ana, wie ihr hatte entgehen können, dass er seine wahre Gestalt vor ihr verbarg. Keine Nacht hatte er geschlafen, hatte behauptet, er müsse über sie wachen, wo er doch in Wirklichkeit über sich selbst wachte. Im Schlaf hätte er die Kontrolle über seinen Körper verloren und sein Geheimnis offenbart.
    Sie hätte erkennen müssen, dass etwas nicht stimmte, doch sie war nicht daran gewohnt, auf die zu achten, die sich um ihr Wohl kümmerten. Zuhause in Somerstorm hatte sie nur wenige Diener mit Namen gekannt. Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, ob sie Familien hatten, wie sie lebten, ob sie glücklich waren oder wenigstens zufrieden. Es war unwichtig gewesen.
    Jonans Verrat hatte Ana gezeigt, dass sie auch die letzte ihrer alten Gewohnheiten ablegen musste. In diesem neuen Leben, in das die Nachtschatten sie gezwungen hatten, war es wichtig, andere genau zu beobachten und die Gründe ihres Handelns zu hinterfragen. Sie würde sich nicht noch einmal täuschen lassen.
    Unerwünschte Bilder tauchten in Anas Erinnerung auf. Jonan, der sich in einen Nachtschatten verwandelt hatte. Seine Klauen, die Bäuche aufschlitzten und Kehlen zerfetzten. Er hatte ihr Leben gerettet. Doch er war ein Ungeheuer.
    Ich werde nicht mehr an ihn denken , hatte sie beschlossen. Trotzdem drehte sie sich jedes Mal um, wenn ein Ast knackte.
    Gegen Mittag endete der Trampelpfad in einer staubigen Straße, die von Westen kam. Graue Wolken hingen tief über dem Wald. Es sah nach Regen aus. Weit entfernt rollte Donner über die Baumwipfel. Die Vögel flogen so tief, dass manche Ana mit ihren Flügeln streiften.
    »Es kommt ein Gewitter.«
    Jonan , dachte Ana, doch noch während sie sich nach der Stimme umdrehte, wurde ihr klar, dass sie zu alt und weich klang.
    Sie gehörte zu einem Mann mit kurz geschnittenen grauen Haaren und faltigem Gesicht. Er saß auf einem Pony, das keinen Sattel trug, nur geknotetes Zaumzeug aus alten Stricken.
    Sie hatte ihn nicht gehört. Auf dem weichen Waldboden bewegte sich das Pferd beinahe lautlos.
    Der Mann war groß und dünn. Er trug ein dunkles Leinenhemd und eine dunkle Stoffhose. Beides war zu kurz, und man konnte seine knochigen Gelenke sehen. Er war barfuß. Staub bedeckte ihn und sein Pony wie ein grauer Dunst. Er erinnerte Ana an die Bauern, die manchmal zur Festung gekommen waren, um ihren Vater um etwas zu bitten – eine Steuersenkung oder einen Schuldenerlass. In ihrer zusammengeliehenen, schlecht sitzenden Kleidung hatten sie versucht, würdevoll auszusehen, aber doch nur lächerlich gewirkt.
    Der Mann sah sie an, schien auf eine Antwort zu warten. Seine Beine waren so lang, dass sie fast bis zum Boden reichten.
    »Ja«, sagte Ana. »Es kommt wohl ein Gewitter auf.« Er ging nicht auf ihre Antwort ein. Sein Blick musterte sie einen Moment lang, dann richtete er ihn auf einen Punkt am Horizont. In seinem langen faltigen Hals hüpfte der Adamsapfel auf und ab.
    »Sie kennen dich nicht«, sagte er. »Das ist seltsam. Sie kennen eigentlich jeden.«
    »Wer?«
    Er schwieg. Sein Blick verlor sich in der Ferne.
    »Wer kennt mich nicht?«
    Sein Blick schwang zu ihr zurück und an ihr vorbei wie ein Pendel. Er grinste und zwinkerte ihr zu. »Die Toten«, sagte er. Unvermittelt verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht. »Sie müssten dich eigentlich kennen. Du bist ja auch tot.«
    Seine Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken.
    »Nein.« Sie stieß das Wort hervor. »Ich bin nicht tot. Ich lebe.«
    Er ist verrückt , dachte sie. Ihre Finger schlossen sich so fest um die Zügel, dass ihr Pferd nervös zu tänzeln begann.
    »Wirklich?« Er runzelte die Stirn. Seine Augen glänzten nass, als müsse er weinen. »Das tut mir leid.«
    Er wendete sein Pony und führte es tiefer ins Unterholz, weg von der Straße. »Der Regen wird dich reinigen«, rief er, ohne sich umzudrehen. »Sie mögen es nicht, wenn man schmutzig ist.«
    Ana fragte nicht, was er damit meinte. Sie sah ihm nach, bis seine schaukelnde Gestalt zwischen Gestrüpp und Bäumen verschwunden war. Ihr Herzschlag wurde
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