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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: Rowland
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sich in seinen Gliedern aus, und er fühlte sich seltsam losgelöst vom eigenen Körper, der ihm schwer wie Blei vorkam und dennoch zu schweben schien, so leicht wie eine Feder. Heiße Furcht loderte wie ein Feuer in seinem umnebelten Bewusstsein auf, schoss empor wie eine Stichflamme, die aber sogleich erlosch, denn die Trunkenheit machte den Mann nahezu taub für sämtliche körperlichen und geistigen Empfindungen. Während er verzweifelt zu ergründen versuchte, was mit ihm geschehen war, spürte er plötzlich, dass er sich nicht allein im Zimmer befand.
    Schnelle Schritte erklangen. Jemand huschte über die Tatami-Matten, die um das Bett lagen. Der schwingende, leise raschelnde Saum eines bunten Gewandes fächelte dem Betrunkenen einen Hauch kühle Luft ins erhitzte Gesicht. Geflüster, zu einem gespenstischen, wirren Wortschwall verzerrt, vermischte sich mit den gedämpften Klängen der Musik und dem Stimmengewirr, die aus dem Erdgeschoss heraufdrangen. Dann sah der Mann, wie die verschwommene Gestalt eines Menschen sich über ihn beugte – ein dunkler, bedrohlicher Schemen vor dem Hintergrund des wirbelnden roten Lichtstrudels. Das Flüstern wurde lauter und schneller und verwandelte sich bald in einen beständigen, schrillen Laut. Durch den Nebel seiner Benommenheit spürte der Mann eine plötzliche, tödliche Bedrohung, doch sein Körper gehorchte ihm nicht und widersetzte sich jedem Versuch einer Bewegung. Wie gelähmt lag er da. Nur seine Lippen bewegten sich in stummem Flehen.
    Die schattenhafte Gestalt kam näher ans Bett und beugte sich über den hilflosen Mann. Die Gestalt hielt einen langen, dünnen Gegenstand in der Faust, der im verschwommenen Sichtfeld des Betrunkenen zu vibrieren schien. In hilflosem Entsetzen starrte er auf den Gegenstand – bis die schattenhafte Gestalt in einem Ausbruch wilder Gewalt damit zustach. Im linken Auge des Betrunkenen loderte greller Schmerz, der bis ins Hirn schoss und ihn jäh aus der Benommenheit riss. Der Mann stieß ein schrilles, durchdringendes Kreischen aus und verstummte wimmernd. Die Musik, das Gelächter und die Rufe aus dem Erdgeschoss verschmolzen zu einem misstönenden Lärm. Schwarze Schatten huschten durchs Zimmer. Der Mann sah einen grellweißen Blitz, der von seinem zerstochenen Auge aus durch den ganzen Körper jagte und seine Arme und Beine heftig zucken ließ; sein Herz schlug rasend schnell, und der Puls dröhnte ihm in den Ohren. Er bäumte sich auf und wand sich in Krämpfen, während der Gegenstand in seinem Auge seinen Kopf gleichsam ans Bett zu nageln schien. Blut schoss aus der Wunde, färbte das Sichtfeld des Mannes rot und überflutete schließlich die schattenhafte Gestalt, die ihm den dünnen Gegenstand immer tiefer ins Auge bohrte …
    Der fürchterliche Schmerz ließ das Herz des Mannes beinahe zerspringen. Dann ließen seine Zuckungen allmählich nach, und sein Herz schlug immer langsamer. Sämtliche Empfindungen – Geräusche, Gerüche, der quälende Schmerz – wurden schwächer und schwächer, bis die Schwärze des Todes den Mann umfing, den letzten Funken Licht erlöschen ließ und seinen Qualen ein Ende bereitete.

1.

     
    D
    ie Nachricht kam bei Sonnenaufgang.
    Der Palast des Shōgun – Mittelpunkt eines ausgedehnten Geländes, das sich auf der Kuppe eines Hügels hoch über der Hauptstadt Edo ausbreitete – reckte seine Türme, Giebel und Spitzdächer in einen morgendlichen Himmel, der die mattsilberne Farbe einer Stahlklinge besaß, die von einer Eisschicht überzogen war. Auf dem Innenhof des Palasts schwangen sich zwei hochrangige Boten des Shōgun, begleitet von einem Trupp Soldaten, in die Sättel ihrer Pferde, galoppierten durchs Tor und über die zu dieser frühen Stunde noch stillen Straßen an den Villen des Beamtenviertels vorüber, das sich auf dem ausgedehnten Palastgelände befand. Der kalte, böige Wind ließ die Banner der Reiter flattern und riss den Rauch ihrer Laternen davon. Bald darauf hielt die Reitergruppe vor dem Tor eines Anwesens, das Sano Ichirō gehörte, seines Zeichens sōsakan-sama des Shōgun – der höchst ehrenwerte Ermittler von Ereignissen, Gegebenheiten und Personen.
    In seiner Villa lag Sano in unruhigem Schlaf, von Albträumen geplagt, die ihn wieder in den Tempel der Schwarzen Lotosblüte zurückversetzten – dem Schauplatz eines Verbrechens, in dem er drei Monate zuvor ermittelt hatte. Fanatische Mönche und Nonnen kämpften mit brutaler Grausamkeit gegen Sano und seine Männer.
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