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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: Rowland
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aber und runzelte die Stirn.
    Sano erkannte, dass Chidori irgendetwas Wichtiges eingefallen war. Gespannt blickte er das Mädchen an. Polizeikommandeur Hoshina stieß sich von der Wand ab und trat einen Schritt vor. Auch er hatte die Reaktion des Mädchens offenbar bemerkt, denn er beobachtete die kamuro nun mit größerem Interesse als zuvor.
    »Was ist, Chidori?«, fragte Sano.
    »Die Tagordnungen von Kurtisane Wisterie«, sagte das Mädchen leise.
    »Tagordnungen« waren Tagebücher in der Tradition vornehmer Damen am alten kaiserlichen Hof. Einem solchen Buch vertrauten die Frauen ihre intimsten Gedanken an und schrieben Ereignisse aus ihrem Leben nieder.
    »Was stand in dem Buch?«, fragte Sano, den die Neuigkeit faszinierte, dass Wisterie diesen jahrhundertealten Brauch bewahrt hatte.
    »Das weiß ich nicht«, sagte Chidori. »Ich kann nicht lesen.«
    Weitere Fragen Sanos an das Mädchen förderten die Informationen zutage, dass Wisterie ihre Notizen auf dünnem weißem Reispapier gemacht hatte; die Seiten hatte sie mit grünen Bändern zwischen zwei Deckblätter aus Pappe gebunden, die mit lavendelfarbener Seide bezogen waren. Wisterie hatte jede Mußestunde dazu genutzt, Eintragungen in ihr Tagebuch zu machen, doch jedes Mal, wenn sie jemanden kommen hörte, hatte sie das Buch rasch versteckt, als hätte sie Angst, dass Fremde darin lesen könnten. Und immer, wenn sie das Bordell verließ, hatte sie das Tagebuch mitgenommen.
    »Ich habe das Tagebuch gestern Abend das letzte Mal gesehen«, sagte Chidori. »Wisterie hatte es sich unter die Schärpe gesteckt.«
    Noch einmal durchsuchte Sano gründlich das Gemach, doch Wisteries Tagebuch blieb unauffindbar.
    »Wahrscheinlich hat sie das Buch bei ihrem Verschwinden mitgenommen, was meint Ihr?«, meldete Hoshina sich zu Wort.
    Oder jemand hat das Buch gestohlen, überlegte Sano, ohne auf Hoshinas Versuch zu reagieren, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, denn er wusste, dass der Polizeikommandeur nur darauf aus war, seine Vermutungen und Schlussfolgerungen zu erfahren. Stattdessen ging Sano in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch, wie die Ereignisse abgelaufen sein könnten. Wahrscheinlich war der Mörder ins Gemach eingedrungen, als Wisterie und Mitsuyoshi geschlafen hatten. Dann hatte er den Fürsten durch den Stich ins Auge getötet, hatte Wisterie überwältigt, sie entführt und ihr Tagebuch gestohlen. Doch es war ebenso gut möglich, dass Wisterie selbst den Fürsten ermordet hatte und dann mitsamt ihrem – vermutlich brisanten – Tagebuch geflohen war. Die eine Erklärung war so schlüssig wie die andere.
    Sano erkannte, wie wenig er über seine frühere Geliebte wusste. Wie war Wisteries Leben verlaufen, seit ihre Wege sich getrennt hatten? Und war sie überhaupt dazu fähig, einen solch grausamen Mord zu begehen? Diese mögliche Erklärung erschreckte Sano genauso sehr wie seine Ahnung, dass dieser Fall Wisterie und ihn wieder zusammenführte – eine Begegnung, deren Folgen nicht vorherzusehen waren.
    Sano ließ sich sein Unbehagen nicht anmerken; stattdessen wandte er sich an den Bordellbesitzer: »Ich werde jetzt mit der yarite sprechen.«

2.

     
    S
    ano verließ das Bordell, rief seine Leute zusammen, die er aus dem ageya geschickt hatte, und trug ihnen auf, die Leiche Fürst Mitsuyoshis zum Palast zu bringen. Zwar hätte er seine Männer lieber zur Leichenhalle von Edo geschickt, um den Toten dort von Dr. Ito untersuchen zu lassen, seinem alten Freund und Ratgeber, doch er durfte nicht das Wagnis eingehen, nach eigenem Gutdünken über den Leichnam einer so bedeutenden Persönlichkeit zu verfügen, wie Fürst Mitsuyoshi es gewesen war, und die Leiche der entwürdigenden – und noch dazu gesetzlich untersagten – Prozedur der Leichenöffnung unterziehen zu lassen.
    Als Sano ins ageya zurückkehrte, kam Hirata ihm auf dem Flur entgegen. »Wir haben jeden im Bordell vernommen«, sagte er so leise, dass Polizeikommandeur Hoshina, der in der Nähe lauerte, nicht mithören konnte. »Sämtliche Kurtisanen und ihre Freier sagen aus, dass sie die letzte Nacht zusammen in den Schlafgemächern verbracht haben. Gestern Abend hat hier eine Feier stattgefunden. Die Bediensteten, der Bordellbesitzer und die kamuro haben sich bis in die Nacht um die Gäste gekümmert. Niemandem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen – bis Momoko die Leiche des Ermordeten entdeckte. Ich bin ziemlich sicher, dass die Leute die Wahrheit sagen. Alle wussten, dass Fürst
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