Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
einfach ungebeten
    herein. In Westminster aber hatten die Hundearenen schon seit
    einer ganzen Weile dichtgemacht, und nur ein paar wenige
    Schenken wagten es immer noch, Wettkämpfe zu veranstalten.

    26
    Die Hunde waren also verschwunden, aber an ihrer statt waren
    die Ratten gekommen. Es hatte nicht lange gedauert, bis Brassey
    ein Licht aufging, wie viel sich damit verdienen ließ. In seinem
    ehemaligen Salon im ersten Stock hatte er einen Kampfplatz ein-
    gerichtet. Tom selbst war dort zwar schon lange nicht mehr
    bei einem Kampf gewesen, aber Brasseys Geschäft lief zweifellos
    bestens. Es gab Wochen, da bestellte er zwei–, ja sogar dreimal
    eine neue Lieferung, so dass Tom kaum nachkam. Nicht, dass
    Tom sich darüber beklagte. Man konnte damit gutes Geld verdie-
    nen, und an den Viechern herrschte kein Mangel. Gewöhnlich
    lag der Preis bei einem Penny für zwei Ratten, aber diesmal
    wollte Brassey besonders große Exemplare und war deshalb be-
    reit, sogar einen Penny pro Tier zu zahlen. Insgesamt fünf Pfund.
    Heutzutage bekam man für Ratten zehnmal so viel wie für das
    Schwemmgut aus den Kanälen, da biss die Maus keinen Faden ab.
    Nebelschleier huschten an Tom vorüber, als er sich in einen
    Bogengang duckte, der nicht breiter war als eine Tür. Er öffnete
    sich zu einer Art Hof, sechs Meter lang und nicht mehr als sech-
    zig Zentimeter breit, umgrenzt von hohen Holzhäusern. In den
    oberen Stockwerken hatten etliche Räume einen Vorsprung, wo-
    durch sich ein Dach über den ganzen Hof bildete, welches den
    Himmel vollständig verbarg. Der Hof selbst mündete in eine
    schmale Gasse, diese in eine weitere und noch eine, allesamt ver-
    winkelt und kreuz und quer verlaufend. Am Weg drängten sich
    baufällige Häuser, die in ihrem halb zerfallenen Zustand wie Be-
    trunkene aneinander lehnten.
    In den Gassen wimmelte es von zerlumpten Kindern. Einige
    versuchten, Tom bei der Hand zu fassen oder ihn bettelnd am
    Rocksaum zu zupfen, aber er schüttelte sie ab, ohne sie auch nur
    eines Blickes zu würdigen. Er ging mit schnellen Schritten,
    schlängelte sich mühelos wie ein Aal durch das Gewirr der
    Mietskasernen, bis er an eine Stelle kam, wo zwei bröckelnde

    27
    Backsteinmauern aneinander stießen. Ein verrosteter Eisenträ-
    ger ragte über ihm aus der Wand, die Glaskugel der Gaslaterne
    war schon lange zerbrochen. Selbst der Nebel tat sich schwer, bis
    hierher durchzudringen. Nur der dünne Strich eines dunkleren
    Schattens verriet, dass die eine Wand ein wenig vor die andere
    gesetzt war und einen winzigen Innenhof verbarg, nicht breiter
    als die Spannweite der ausgestreckten Arme eines Mannes. In
    einer Ecke befand sich eine niedrige, halb verfallene Tür, die
    schief in den Angeln hing. Tom öffnete sie vorsichtig und stieg
    mit eingezogenem Kopf eine Treppe in einen fensterlosen Keller
    hinab.
    In der modrigen Düsternis griff er nach der Laterne, die an
    einem Nagel hing, und holte die Drahtkäfige aus einer Nische.
    Sie waren breit und flach, ähnlich denjenigen, in denen man Kü-
    ken zum Markt trug. Wenn es sein musste, konnte man hundert
    Ratten in einen solchen Käfig sperren, übereinander gestapelt
    wie Schüsseln. Tom tastete die Ecken der Käfige nach Löchern
    ab. Es war kein Spaß, wenn eine Ratte entkam, nicht, wenn man
    im Tunnel steckte. Bei Nebel waren die Ratten wilder und konn-
    ten einem gefährlich werden. Nebel machte sie ganz verrückt,
    obwohl Tom ums Verrecken nicht hätte sagen können, weshalb.
    Unter der Erde spielte es doch nicht die geringste Rolle, ob sechs
    Meter weiter oben die Leute kaum noch die eigene Hand vor den
    Augen oder die goldenen Flammen des Monuments klar er-
    kennen konnten. Außerdem fanden die Viecher hier unten sogar
    blind ihren Weg, genau wie Tom selbst. Es war vertane Zeit, die
    Ratten verstehen zu wollen. Sie konnten einen zwar übel beißen,
    aber sie waren dumm wie Bohnenstroh. Er und Joe fingen sie
    nun schon seit drei Jahren immer auf die gleiche Weise, und sie
    kapierten es einfach nicht. Natürlich beklagte er sich nicht darü-
    ber. Ohne die Ratten wären es für ihn schlimme Zeiten. Die Ar-
    beit war vielleicht nicht so aufregend wie das Schwemmgutsam-

    28
    meln, bei dem man nie wusste, was einen hinter der nächsten
    Ecke erwartete. Aber es war ein Geschäft, und dafür musste man
    dankbar sein. Es gab nicht viele in seinem Alter, die noch ein
    neues Gewerbe erlernen konnten, selbst wenn es eines zu erler-
    nen gab. Er selbst hätte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher