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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser
Autoren: Clare Clark
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berauschenden
    stinkenden Mixtur durchtränkt. Die Händler verbreiteten den
    Gestank, indem sie ihre Messer in die Fischleiber senkten und
    die Gedärme auf die blutverschmierten Schneidbretter klatsch-
    ten. Der Inhalt Tausender Fischmägen hatte ihre ledernen Hüte
    und Schürzen dunkel und steif werden lassen. Blutstriemen ver-
    unstalteten die Arme der Fischfrauen, ihre Gesichter, die Säume
    ihrer gesteppten Unterröcke. Silbrig glitzernde Fischschuppen
    verfingen sich im Schlamm auf ihren Stiefeln. Eis glitt schmel-
    zend von ihren Tischen, glänzend und dick von Fischschleim.
    Aus strohgefütterten Holzkisten sickerte eine Lake aus Salz und
    Fischabsonderungen in die Gräben und Gullys. Selbst wenn
    man sich in Billingsgate nur eine Stunde aufhielt, setzte sich der

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    Gestank im Mantel fest, so dass man für den Rest des Tages einen
    Hauch davon verströmte.
    Tom beobachtete, wie sich ein Fischweib energisch ihren Weg
    durch die Menge bahnte, einen triefenden Korb mit Flundern
    auf dem Kopf balancierend. Wenn die Buden geschlossen wur-
    den und die Fischfrauen nach Hause gingen, war ihr platt
    gedrücktes Haar unter den Hauben und Mützen vom Gestank
    gesättigt. In der Thames Street stiegen einem die alltäglichen,
    allgegenwärtigen Gerüche Londons in die Nase – Gerüche, die
    einem so vertraut waren, dass man sie sich bewusst machen
    musste, um sie überhaupt noch wahrzunehmen – nur für einen
    Augenblick, da sie sofort wieder verdrängt wurden. Tabak, fau-
    liges Stroh und Pferdemist an einem Kutschenstand, heißes
    Brot, der beißende Schwall aus einer offenen Kloake, ein gele-
    gentlicher Hauch von Braten und verschüttetem Porter aus einer
    Bierschenke, das heiße, rote Herz eines glühenden Kohlenbe-
    ckens – keiner dieser Gerüche kam dem Fischgestank gleich.
    Nicht einmal der strenge, saure Geruch von verschwitzten Klei-
    dern, ungewaschenen Körpern und fauligem Atem, der Tom
    schon sein Leben lang begleitete und von dem er keine Notiz
    mehr nahm, konnte dem stolzen Gebäude aus Gestank, das der
    Markt von Billingsgate darstellte, mehr als einen winzigen Krat-
    zer zufügen.
    Tom schnupperte noch einmal. Er war sich nicht sicher, nicht
    restlos. Eine Stadt so voller Trugbilder und Tücken wie diese
    konnte sogar ihn täuschen, aber seinem Gefühl nach lag nicht
    der geringste Anflug der metallischen Schärfe von Regen in der
    Luft. Freilich erschwerte der Nebel jede Vorhersage. In seinen
    Wirbeln und Schwaden verbargen sich mitunter Wolken, die so
    rasch abregneten, wie ein Stiefel das Straßenpflaster berührte;
    woraufhin im Nu das Wasser in den Kanälen stieg. Befand man
    sich dann an einer falschen Stelle, blieb einem nicht viel Zeit, um

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    herauszukommen. Noch hatte die Flut nicht eingesetzt. Sie hat-
    ten also acht bis neun Stunden zur Verfügung, rechnete er, viel-
    leicht sogar mehr. Und der Nebel hatte auch seine Vorteile. Da es
    inzwischen ein Gesetz gab, das jedem eine Belohnung versprach,
    der merkwürdige Vorkommnisse in den Abwasserkanälen mel-
    dete, waren die Kerle auf dem Wasser wachsam wie Spinnen.
    Aber im Nebel entdeckten sie einen nicht so leicht, und die Po-
    lypen hatten bei all dem Getöse und Durcheinander auf den
    Straßen anderes zu tun. Zudem ließ sich im Nebel nur schwer
    erkennen, ob unter einem Einstiegsgitter ein Licht brannte. Und
    falls doch jemand zufällig den Schein einer Laterne entdeckte,
    würde er ihn vielleicht für eine Sinnestäuschung durch den Ne-
    bel halten.
    Joe sollte sich im Keller mit ihm treffen. Dort gab es ein Ver-
    steck, wo sie die notwendigen Gerätschaften aufbewahrten, die
    Käfige, Schaufeln und Hacken, an denen man die Laternen be-
    festigen konnte. Tom erinnerte sich noch gut, wie ihm der Alte
    beigebracht hatte, die Laterne im Tunnel vor sich zu halten,
    damit man sofort Gase bemerkte. Solange die Flamme nicht
    erlosch, bestand keine Gefahr. Diesmal hatte Brassey Ratten be-
    stellt, nicht weniger als einhundertfünfzig der Drecksviecher für
    einen großen Kampf in seinem Wirtshaus in Soho. Der Tag, an
    dem die Hundekämpfe per Gesetz verboten wurden, war für
    Brassey ein Glückstag gewesen. Denn von da an suchten all diese
    Kerle mit ihren Taschen voll Geld nach einem anderen Zeitver-
    treib, egal welcher Art. Natürlich hieß es, dass es in den großen
    Häusern noch immer jede Menge Hundekämpfe gebe. Die fei-
    nen Herrschaften konnten sich das erlauben, denn bei ihnen
    platzten die Polypen wahrscheinlich nicht
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