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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser
Autoren: Clare Clark
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Scheiße
    mitten durch die Hauptstadt, wobei sich die Klümpchen und
    Klößchen von Arm und Reich unterschiedslos in seinen Fluten
    gegenseitig anrempelten und aneinander rieben. Die feinen Da-
    men konnten ihre Türen verriegeln und sich auf dem stillen Ört-
    chen noch so bemühen, bloß kein Geräusch zu verursachen –
    ihre Ausscheidungen stanken genauso wie die aller anderen, und
    hier draußen fand sich der Beweis. Hier waren ihre intimen Hin-
    terlassenschaften für jedermann klar und deutlich zu sehen wie
    die Prunkstücke im Kristallpalast. Zu gewissen Zeiten, vor allem
    morgens und abends, wenn zwanzig Dampfer oder mehr mit ih-
    ren großen Schaufelrädern unter der London Bridge hindurch-
    pflügten, war das Wasser so dick und braun, dass man glauben
    mochte, es würde ohne weiteres das Gewicht eines Menschen
    tragen und man könnte trockenen Fußes ans andere Ufer ge-
    langen. An heißen Tagen haute einen der Gestank schier um. Auf
    der London Bridge hatte Tom gesehen, wie Damen in ihren
    zweirädrigen Kutschen in Ohnmacht fielen und leichenblasse
    Herren sich Taschentücher vor den Mund hielten. An manchen
    Nachmittagen im November indessen durchzog Meertang in sil-
    bernen Fäden die dicke, braune Brühe bis mindestens hinauf
    nach Southwark. Wenn Tom gelegentlich drüben in Greenwich

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    nachts ans Ufer trat, hätte er schwören können, dass Salz vom
    Fluss aufstieg und über den schlammigen Wogen glitzerte und
    tanzte wie Schwärme silbriger Mücken.
    Wer es schaffte, sich durch den Gestank der Themse hindurch-
    zuriechen, nahm als Nächstes den sauren, rußigen Nebeldunst
    wahr. In London trat der Nebel in allen möglichen Spielarten
    auf, jeweils mit einem unverwechselbaren Geruch. An diesem
    Tag war es eine gelbbraune schleimige Suppe, die sich herab-
    senkte und durch die Straßen kroch, sich in Höfe und Keller
    schlich und um Pfeiler und Laternenpfähle wand. Man schmeck-
    te den Nebel mehr, als dass man ihn roch. Er verklebte die Na-
    senschleimhäute, würgte einem die Luft ab und kondensierte auf
    Augenbrauen und Barthaaren zu klebrigen Tropfen. Wenn Tom
    durch den Mund atmete, hatte er einen Geschmack wie von ran-
    zigem Schweinefett auf der Zunge, das bestäubt war mit schwar-
    zem Mehl aus Kohlenstaub. Dieser Nebel lag nun schon fast eine
    Woche über der Stadt, ließ Eisen rosten und bedeckte alles, was
    er berührte, mit einer schmierigen Rußschicht. In seinem fahlen
    Licht sahen die Gebäude aus wie Fettflecken auf einem Tisch-
    tuch.
    Südlich des Flusses vermischte sich der Nebel mit dem unver-
    meidlichen Rauch. In manchen Teilen von Bermondsey und
    auch in Southwark hätte man meinen können, der Himmel
    würde allein durch die Schlote oben gehalten. Jeder Rauch hatte
    seinen eigenen, besonderen Geruch, so dass man immer wusste,
    wo man war. Der Rauch der Leimsiedereien roch ätzend, er
    setzte sich im Hinterkopf fest und verursachte Schwindelgefühl,
    während die Seifenfabriken den widerwärtigen Gestank von ko-
    chendem Fett verströmten. Aus den Kaminen der Zündholzma-
    nufakturen quoll gelber Rauch, der so übel stank wie die Gasse
    hinter einer Schenke. Dann gab es noch den eigentümlichen, be-
    täubenden Hopfengeruch aus den Brauereien, der aber nichts

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    war im Vergleich zu dem Gestank von Leder und Hundekot, den
    die Gerbereien verbreiteten. Südlich des Flusses brauchte man
    oft nur die Straßenseite zu wechseln, um zu wissen, dass man
    sich in einem anderen Viertel der Stadt befand.
    Hier in der Thames Street herrschte ein ganz besonderer Ge-
    ruch. Bei solchem Nebel erschien einem der Marktplatz wie ein
    schmutziger Klecks inmitten eines morastigen Grabens, und das
    unablässige Gebrüll der Marktschreier war bereits in dreißig
    Meter Entfernung nur mehr gedämpft zu vernehmen. Der Ge-
    stank nach Fisch, nach frischem wie verdorbenem Fisch, war
    stattlich und wichtigtuerisch wie ein Gotteshaus. Gewisserma-
    ßen das Fundament bildeten die Meeresaromen von Tang und
    Salzwasser, und darauf lagerten Schicht um Schicht, Gestank um
    Gestank, die beißenden Dünste von Stint und Bückling, See-
    zunge, Hering und Merlan, Muschel, Auster und Sprotte, Kabel-
    jau, Steinbutt und Krebs, Glattbutt, Schellfisch und Aal, Krabbe,
    Rochen und hundert anderen Arten. Die Lastenträger, die zwi-
    schen den Booten und den Verkaufsständen hin- und herhetz-
    ten, beförderten diese Gerüche vom Ufer zum Markt und wieder
    zurück und waren von Kopf bis Fuß von der
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