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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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ihm die Schuld am Tod dieses Kerls in den Abwasserkanälen. Tom hätte froh darüber sein sollen, aber es steigerte nur seine Unruhe. Man konnte ja nicht wissen, was der Captain vor Gericht ausplaudern würde, wenn sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zog. Tagelang hatte Tom schon fast eine Hand auf seiner Schulter gespürt und gefühlt, wie ihm die Arme auf den Rücken gedreht wurden. Aber die Zeit war vergangen, ohne dass etwas passiert wäre. Tom war seit über einer Woche nicht im East Court gewesen, aber laut Joe hatte sich kein dienstbeflissener Polyp an seiner verriegelten Tür blicken lassen oder sich in den Schenken nach ihm erkundigt. Sogar Eddowes, der Wirt des Kaffeehauses, der seine Ohren überall hatte, hatte im Zusammenhang mit der ganzen erbärmlichen Geschichte niemals Toms Namen fallen hören. Dennoch blieb Tom auf der Hut. Vielleicht lauerten sie ihm auf, warteten, bis er glaubte, die Luft sei rein. Aber heute wurde der Schweinehund aufgeknüpft. Heute sah sogar der vorsichtige Tom keine Gefahr mehr für sich. Lady, sein Engel, war dem Captain zwar an den Kragen gegangen, doch sie hatte ihm die Kehle nicht ganz durchgebissen, so dass er Tom immer noch hätte verpfeifen können. Aber selbst wenn er es versucht hatte, so hatte ihn anscheinend niemand angehört. Und jetzt war es für ihn aus und vorbei, ganz offiziell. Die volle Wucht des Gesetzes, das Parlament und sogar Ihre Majestät Königin Victoria hatten Ladys Werk vollendet. Er empfang ein gehöriges Maß an Genugtuung.
    Um sieben Uhr morgens hatten sich Tom und Lady ein bequemes Plätzchen an der Backsteinmauer erobert, mit einem ausgezeichneten Blick auf das Geschehen. Ringsum hörte man Scherze und Gelächter, es wurde gedrängelt, geschubst und gerempelt, ein Meer von Menschen, so weit das Auge reichte. Tom gegenüber versuchte sich ein Mann mit aller Kraft an einem Regenrohr zu einem Sims hochzuziehen, doch der Ladenbesitzer, dem das Haus gehörte, hielt ihn an den Beinen fest und ließ ihn nicht mehr los. Es herrschte gespannte Aufmerksamkeit, und von allen Seiten erschollen anstachelnde Rufe, so wild und begeistert, dass man hätte glauben können, es fände ein Rattenkampf statt. Bei dem Gedanken musste Tom laut lachen. An den Fenstern der Läden hingen Trauben von Menschen. Über dem Hutmachergeschäft saßen ein dicker Schneider und seine Frau am Fenster und schlürften genüsslich eine Tasse Tee.
    Mittlerweile patrouillierte eine Polizeieskorte an der Absperrung auf und ab, mit ausdruckslosem Blick, als wären die Uniformierten taub für die Schmährufe, mit denen freche Laufburschen und Gehilfen aus der vordersten Reihe sie überschütteten. Das Gedränge war jetzt so groß, dass man kaum mehr fest auf den Füßen stehen konnte. Tom spreizte die Ellbogen, damit Lady, die sich auf seinen Armen zusammengerollt hatte, nicht angerempelt wurde. Eigentlich hätte er sie gar nicht mitnehmen sollen, denn am Boden würde sie in null Komma nichts niedergetrampelt. Aber es war nur recht und billig, dass sie hier war. Wie jeder andere hatte sie das Recht, den Schurken am Galgen baumeln zu sehen, und gewiss größeres Recht als die allermeisten. Kaum zwanzig der hier versammelten Schaulustigen hätten den Captain gekannt, wenn er auf sie zugekommen wäre und ihnen die Hand geschüttelt hätte. Lady dagegen kannte ihn nur zu gut. Unterhalb ihrer rechten Schulter hatte sie eine frische bläuliche Wunde, die sich dunkel von ihrer rosafarbenen Haut abhob. Tom hatte sie mit Pfefferminzwasser gereinigt, aber sie sah noch immer übel aus, und das machte ihm Sorgen. Um ehrlich zu sein, hatte er sie deshalb hierher mitgenommen. Wenn sein Blick auf die Wunde fiel oder er nur daran dachte, kochte die Wut in ihm hoch. Der Mistkerl hatte sich nicht damit begnügt, ihm Lady wegzunehmen, o nein. Er hatte sie kleinmachen wollen. Wenn er sie kampfunfähig gemacht hatte …
    Er spürte ihr zuckendes Ohr an seinem Mund, als sie den Kopf hob und ihm das Kinn leckte. Sie würde gesund werden. Sie würde, in einem Glaskasten ausgestellt, unsterblich sein, für jedermann sichtbar: eine der Großen. Hier und heute aber gab es nur sie beide, gekommen, um dabei zu sein, wenn der Captain, dieser Dreckskerl, seinen Weg in die Ewigkeit antrat. Er selbst war weich geworden, überlegte Tom, und während er die Arme fester um Lady schlang, musste er unwillkürlich grinsen. Der Langarmige Tom, steinalt, aber weich wie Butter.
    Nachdem die Kutschen des Sheriffs
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