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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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vorbeigefahren waren, ging alles sehr rasch. Als es Viertel vor acht schlug, wurde die Menge immer angespannter, gleichzeitig aber auch ruhiger. Man reckte den Hals, ob nicht schon etwas zu sehen war, was darauf hindeutete, dass der Delinquent gleich herauskommen würde. Eine Leiter wurde gebracht und durch eine Seitentür ins Gefängnis getragen. Wer noch Platz genug hatte, die Arme zu heben und auf das Geschehen zu deuten, konnte sie nur mit Mühe wieder herunternehmen. Ein Arbeiter, der letzte Hand an einen Balken legte, wurde geneckt und angespornt. Über der wogenden Menge öffneten sich Fenster, aus denen Menschen aufgeregt auf Dächer und Vorsprünge kletterten.
    Und dann endlich schlug die Uhr die volle Stunde. Als wären die Glocken ein Dampfer, der mit seinen gewaltigen Rädern das Menschenmeer durchpflügte, begann die Menge zu wanken und zu wogen, und ein furchtbares Kreischen der Erregung ging wie ein Ruck durch die Zuschauer. Zuerst war auf der Bühne nichts zu sehen. Einsam stand das schwarze Gerüst des Galgens, dem Lärm abgewandt, da. Tom musste an ein geprügeltes Kind denken, das sich verschämt in eine Ecke duckt. Dann öffnete sich das schwarze Gefängnistor, und ein Kopf erschien. Alle hielten den Atem an, um kurz darauf wie im Chor tief Luft zu holen. Es war, als würden sie damit sämtliche Geräusche auf den Straßen verschlucken, so dass es nun fast totenstill war. Wie sich zeigte, war William Calcraft herausgetreten, der Henker von Newgate. Hinter ihm erschien der Captain.
    Sein schwarzer Anzug sah neu aus, und der Verband, den er um den Hals trug, war blendend weiß wie die Halsbinde eines vornehmen Herrn. Seine Hände waren vor dem Körper gefesselt, aber er bewegte sich, als würde er sie beim Gehen schwenken, fast als stolzierte er. Er ließ den Blick über die Menge schweifen, mit zusammengekniffenen Augen, weil ihn das helle Morgenlicht blendete. Ein paar jugendliche Straßenhändler riefen ihm etwas zu, doch die meisten Zuschauer waren verstummt und gafften mit offenem Mund, als der Gefangene mit einer Geste, deren Bedeutung Tom nicht verstand, die Arme hochriss. Ein Raunen ging durch die Menge, eine sich fortpflanzende Welle. Dann schob der Mann, der als Letzter herausgetreten war, den Captain vorwärts, bis er direkt unter dem Galgen stand. Calcraft zog ein schwarzes Tuch aus der Hosentasche und band es dem Delinquenten um den Kopf. In den Mienen der Zuschauer war weder Mitleid noch Milde zu erkennen. Mit offenen, geifernden Mündern reckten sich alle auf Zehenspitzen, bis die Halssehnen hervortraten wie Schnüre. Man konnte unmöglich verstehen, was der Geistliche sprach, aber jeder sah, dass sein gieriger Blick so gar nicht zu dem feierlichen Zug um seinen Mund passte. Dann wurde die Falltür weggezogen, und Hawke stürzte in die Tiefe. Von seinem erhöhten Platz aus beobachtete Tom, wie der Henker unter dem Galgen heftig an den Füßen des Gehängten zog. Der Körper zuckte, dann blieb er, schwer wie ein Sack, reglos hängen.
    Der Mann war tot.
    Einen Augenblick war die Menge stumm, dann ertönte ein Jubelschrei, so laut, dass selbst die Backsteine des Newgate-Gefängnisses in ihrem kalten Mörtelbett zu erzittern schienen. Tom blieb stumm. Aber er drückte Ladys Schnauze an sein Gesicht und sog ihren warmen Filzgeruch ein. Er hatte noch nicht gefrühstückt, doch plötzlich fühlte sich sein Magen, der ihn seit über einer Stunde gequält hatte, nicht mehr leer an. Tom verspürte Wärme und Zufriedenheit, als hätte er einen ganzen Laib Brot gegessen, der frisch aus dem Ofen kam. Wie viele Notleidende wären froh zu wissen, dass der Geruch eines Hundes einen hungrigen Magen füllen konnte, dachte er nüchtern. Zum Glück war Joe nicht hier und sah sein Gesicht, das nach all diesen Jahren sanft war wie das eines kleinen Mädchens. Joe hätte sich schier ausgeschüttet vor Lachen.
    Der Henker machte jetzt seine Späßchen mit dem Leichnam und tat, als wollte er ihm die Hand schütteln. Die Menge johlte. Lächelnd barg Tom das Gesicht in Ladys Fell. Es war Zeit, mit ihr nach Hause zu gehen.

XXXVIII
    Z wei Tage später verließen William und Polly London.
    Sie hatten ein wenig Geld bei sich. Obwohl sich in der Baubehörde einige dagegen aussprachen, hatte Lovick darauf bestanden, William eine kleine Entschädigung zuzusprechen, die es ihm erlauben würde, während einer kurzen Genesungszeit die unmittelbaren Bedürfnisse seiner Familie zu erfüllen. Das Angebot, seine Tätigkeit
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