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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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Ledereinband des Heftes klebte ihm an den Händen. Sein wild pochendes Herz nahm den Rhythmus der Silben auf. TÖTEN . TÖTEN . TÖTEN .
    Es war der grüngesichtige Wachtmeister, der das Licht auf dem Wasser am Ende des Tunnels zuerst bemerkte. Sofort richtete er sich auf und gestikulierte zu dem Vorarbeiter – stumm und mit der ganzen Autorität, die er aufzubringen vermochte. Der zuckte nur die Achseln, doch gestärkt durch die Rückbesinnung auf seine polizeilichen Amtspflichten, schüttelte der Wachtmeister streng den Kopf und schwenkte gebieterisch den Zeigefinger in Richtung des fernen Lichts. Der Vorarbeiter zögerte kurz. Dann verdrehte er die Augen, löschte sein Licht und bedeutete den anderen, es ihm gleichzutun. Leicht nach hinten taumelnd, ohne es zu merken, schlug sich Rose schmerzhaft den Ellbogen an der Tunnelwand an, woraufhin der grüngesichtige Wachtmeister ihm die Laterne aus der Hand riss und die Blende vorschob. Es war jetzt stockfinster, doch Rose hatte noch immer die Worte vor Augen, die in leuchtend rotem Staub in der Dunkelheit geschrieben standen.
    TÖTEN . TÖTEN . TÖTEN . TÖTEN .
     
    Die Stimmen waren leise, doch verstärkt durch das Echo in dem niedrigen Tunnel, konnte man die Worte deutlich verstehen.
    »Den Brief.«
    Und dann, geflüstert, im gleichen barschen Ton: »Du glaubst wohl nicht, ich bin so dumm, dir noch weiter hinterherzulaufen. Den Brief.«
    »Na, haben Sie Schiss?« Die zweite Stimme war derber, unverkennbar die gedehnten Vokale, wie sie für die einfache Bevölkerung Londons typisch waren. Doch die Drohung war eindeutig herauszuhören.
    »Wenn du den Brief nicht rausrückst, töte ich den Hund.«
    »Immer mit der Ruhe.« Ein leises Platschen, dann das Aneinanderschaben von Backsteinen. »Na, was haben wir denn da?«
    »Gib her.«
    »Ein sehr interessanter Brief ist das. Wirklich, sehr interessant.«
    »Hör zu, du dreckiger …«
    »Bin zwar kein Anwalt, aber ich wette, so ein Brief kann jemanden ganz schön in die Bredouille bringen.«
    »Gib ihn her.«
    »Zuerst die Hündin.«
    Kurzes Schweigen.
    »Und dann?«
    »Gehört alles Ihnen. War mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«
    Das Rascheln von Papier war im Rauschen des Wassers kaum zu hören.
    »Da ist ja mein Mädchen.« Die zweite Stimme klang jetzt sanfter. Man konnte das Lächeln geradezu heraushören. »Da ist ja mein süßes Mädchen. Komm, gehen wir nach Hause.«
    Und dann, schroffer jetzt: »Hier lang.«
    Die Lichter flackerten. Dann das leise Plätschern von Schritten im Wasser. Absolut lautlos glitt der Vorarbeiter den Tunnel entlang, um die Verfolgung aufzunehmen. Plötzlich das Wispern von Metall gegen Metall. Der Vorarbeiter erstarrte.
    »O nein, ich glaube nicht«, zischte die erste Stimme.
    »Das würde ich sein lassen.« Die zweite Stimme klang jetzt heiserer, aber immer noch drohend, gespannt wie das Halseisen eines Henkers. »Wenn ich Sie wäre.«
    »Ach ja? Du bist aber nicht ich.«
    »Ich warne Sie, wenn Sie mir auch nur ein Haar krümmen, wird sie Ihnen die Kehle durchbeißen.«
    »Nicht, wenn ich ihr zuerst die Kehle aufschlitze. Fühlst du die Klinge? Scharf, nicht wahr? Schneidet gut, wenn’s drauf ankommt. Ist gar nicht so schwer, jemandem die Kehle durchzuschneiden. Eine fixe Handbewegung, dazu ein klein wenig mehr Druck. Wie wenn man Fleisch schneidet. Oder einen Hund ausweidet. Freilich ist man nicht sofort tot. England … also England hat sogar noch versucht wegzulaufen. Aber hier unten, wer hört hier unten schon, wenn einer schreit?«
    »Zum letzten Mal, ich warne Sie …«
    »Mr. England hat geflennt wie ein Kind …«
    Der Schrei, der folgte, drang schneidend wie eine Klinge durch den Tunnel. Der grüngesichtige Wachtmeister schnappte nach Luft, tastete nach dem Knüppel an seinem Gürtel und marschierte in die Richtung los, aus der das Licht kam. Der Vorarbeiter folgte ihm, ebenso Rose. Bei der Biegung des Tunnels hing eine Laterne an einem Haken im Mauerwerk. Dahinter eine riesige, Furcht erregende Höhle mit Pfeilern und Säulen wie der unterirdische Palast des leibhaftigen Satans, geschmückt mit riesigen Zapfen aus Salpeter, die von der Decke hingen. Der schwarz schimmernde Boden wirkte wie eine mächtige Falltür. Im hellen Lichtschein lag ein Mann am Boden wie eine vor Schreck erstarrte Ratte. In der einen Hand hielt er ein Messer, an dessen silberner Klinge ein roter Blutstropfen schimmerte. Die andere Hand presste er an seinen Hals. Zwischen den
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