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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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spitzen, um es zu hören.
    »Das habe ich soeben getan«, sagte sie.

XXXVI
    D er Vorarbeiter stieg als Erster hinunter, die Laterne hoch über den Kopf haltend, damit Rose und die beiden Wachtmeister die Eisensprossen in der Wand, die als Leiter dienten, nicht verfehlten. Seine Eidechsenaugen funkelten trüb im Schein der Laterne, als er Rose das Zeichen gab, dass es losging. Vorsichtig setzte Rose den Fuß auf die erste Sprosse. Der Gestank, der von unten heraufdrang, war schon jetzt unerträglich, und er wurde mit jeder Sprosse stärker, so dass Rose würgte und sich sein Mund mit saurem Speichel füllte. Er hielt sich die Nase zu und atmete angeekelt nur durch den Mund. Er bildete sich ein, den bestialischen Gestank menschlicher Exkremente auf der Zunge zu schmecken. Dann stieg er in den Abwasserstrom. Das dunkle Wasser reichte ihm bis zu den Knien, und unsägliche braune Klumpen umspülten seine Stiefel, bevor sie mit der Strömung weitergetrieben wurden. Mit einer Bewegung des Daumens bedeutete ihm der Vorarbeiter, in südliche Richtung weiterzugehen, bevor er dem ersten der beiden Polizisten zurief, er solle herunterkommen. Das Licht von Roses Laterne beleuchtete nur einen kleinen Ausschnitt der vor ihm liegenden erstickenden Dunkelheit, aber er sah das morsche Backsteingemäuer, das von einer giftigen Schmiere überzogen war. Neben ihm in der Tunnelbiegung, wo ein Stück Wand hervorsprang, hatte sich der faulige Unrat zu einem weichen, hoch aufgetürmten Haufen abgelagert. Aus der Tunneldecke sprossen bleiche Pilze hervor, für die die widerwärtige Fäulnis einen fruchtbaren Nährboden zu bilden schien. Rose schloss die Augen, die Hände zu Fäusten geballt. An seinen Stiefelsohlen saugte sich dicker schmatzender Schlamm fest. Er geriet ins Wanken. Bei dem Gedanken, der Länge nach in den stinkenden Strom zu fallen, blieb ihm fast das Herz stehen. Er öffnete die Augen und senkte die Laterne, um in die undurchdringliche Dunkelheit zu leuchten. In ihrem Lichtkreis wirkte das Wasser wie aufgewirbelter Schlamm. Eine tote Ratte trieb an ihm vorbei, das Fell seidig glänzend am schmalen Körper, die haarlosen Füße in gekrümmter Erstarrung. Rose würgte. Er konnte sich keine irdische Strafe vorstellen, die einen auf das Grauen der Abwasserkanäle Londons vorbereitete, es sei denn, man durchwatete den Hadesstrom.
    Mit einem dumpfen Platscher landete der zweite Polizist im Wasser. Der Vorarbeiter murmelte etwas, während er sich, die Laterne vor sich ausgestreckt, an Rose vorbeidrängte, um die Gruppe anzuführen. Rose duckte sich, um nicht aus Versehen an das heimtückische Mauerwerk zu stoßen. Im Wasser treibende Steinbrocken streiften seine Stiefel, doch er wagte nicht, den Blick nach unten zu richten. Die beiden Wachtmeister hinter ihm husteten und würgten in der Dunkelheit; Rose hörte ihre flachen Atemzüge. Mehrmals bedeutete der Vorarbeiter Rose zu warten, damit die beiden Polizisten nicht zu weit zurückblieben. Roses Schätzung nach waren sie etwa einen halben Kilometer gegangen, als der Vorarbeiter seine Laterne von dem Stecken herunternahm und sie sich über den Kopf hielt.
    »Hier ist es«, sagte er knapp. Die Augen in seinem ausdruckslosen Gesicht funkelten im Licht der Laterne.
    Rose blickte sich um. Der Tunnel erstreckte sich tief ins Dunkel, aber dort, wo er eine Biegung machte, war eine Einbuchtung, ursprünglich vielleicht ein Regenkanal. Dieser Abschnitt des Kanals blieb von der Flut unberührt, doch die Wände waren überall von stinkenden Ablagerungen überzogen, die sich in den Ecken zu widerlichen Haufen türmten. Die Decke hing so niedrig, dass der größere der beiden Wachtmeister nicht einmal aufrecht stehen konnte, der Kanal war jedoch breit und seicht. Giftige Pilze und Schimmel überzogen das stark erodierte Mauerwerk. Überall lagen Backsteinbrocken verstreut. Hier gab es Hunderte, ja Tausende Verstecke. Vor Ekel und Abscheu hätte Rose am liebsten zu weinen angefangen.
    »Hier ist es?«, fragte er, bemüht, sich seine Verzagtheit nicht anmerken zu lassen. »Die Stelle auf der Karte?«
    »Exakt.«
    »Gut.« Bei der Aussicht, hier irgendetwas berühren zu müssen, drehte sich ihm der Magen um. »Wie viel Zeit haben wir?«
    Der Vorarbeiter zuckte die Achseln.
    »’ne Stunde. Höchstens eineinhalb.«
    »Dann fangen wir am besten gleich an.«
    Rose drehte sich zu den beiden Wachtmeistern um. Dem Kleineren der beiden war sichtlich übel, sein bleiches Gesicht hatte einen grünlichen
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