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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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Fingern schoss purpurrotes Blut heraus. Er war allein. Der Wachtmeister starrte ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an.
    »Was um … o mein Gott!«
    Der Mann schlug die Augen auf, Panik in seinem blutleeren Gesicht. Mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung rappelte er sich auf die Füße und stolperte davon. Damit hatte der Wachtmeister nicht gerechnet. Er taumelte und wäre beinahe gefallen, doch der Vorarbeiter war schneller. Er packte den Mann und drehte ihm den Arm auf den Rücken, doch der schlug wie wild um sich, und das Blut aus seiner Halswunde spritzte dem Vorarbeiter ins Gesicht.
    »Mr. Hawke«, sagte der Wachtmeister, tiefes Bedauern in der Stimme. »Ich muss Sie leider verhaften.«

XXXVII
    D er Tag, an dem eine Hinrichtung stattfand, war stets ein ganz besonderer Tag. Obwohl der Delinquent selbst erst um acht Uhr morgens zum Galgen geführt wurde, strömten die Menschen schon kurz nach Mitternacht herbei, Jungen und Mädchen vor allem, aber auch Männer und Frauen jeden Alters, die sich einen guten Blick auf das Schauspiel sichern wollten. Der Geruch, der in der Luft lag, erinnerte Tom an einen Sommerabend, wenn unzählige Kater herumstreunten. In Scharen kamen sie über Holborn und das höher gelegene Snow Hill, vorbei an St. Sepulchre nach Newgate, einander drängend und rempelnd, mit in der Dunkelheit umherirrendem Blick. Ihre Sensationsgier war mit Händen zu greifen. Die Besitzer der Schnapsbuden rund um Newgate ließen ihre Betten kalt; sie hatten ihre Läden geöffnet, um sich dieses gute Geschäft nicht entgehen zu lassen. Von Zeit zu Zeit strömten Neugierige in Gruppen zum Hinrichtungsplatz, um den Zimmerleuten beim Hämmern und Sägen zuzusehen, ehe sie der Durst wieder in die Schenke trieb.
    Um die gelben Kugeln der Gaslaternen in den umliegenden Gassen waberte frühmorgendlicher Nebel und Tabakqualm. Die Schaulustigen schlenderten durch die dicht bevölkerten Straßen und scharten sich um diejenigen, die sich als Experten in Sachen Hinrichtung aufspielten und jedem, der es hören wollte, Auskunft darüber erteilten, in welche Richtung der Delinquent blicken, wie der Galgen gehandhabt und wann dem Verbrecher die Schlinge um den Hals gelegt würde. Durch Absperrungen versuchte man die Menge von der Richtstätte fern zu halten, doch bereits um fünf Uhr früh wurden die Zuschauer in der ersten Reihe an die Schranken gedrückt, und nicht wenige Frauen, die in Ohnmacht gefallen waren, mussten mit ihren in Unordnung geratenen Kleidern durch die dichte Menge hinausgetragen werden, damit sie wieder ein wenig Luft bekamen. Auf dem Dach vieler Häuser im Umkreis waren wie in einer Galerie ganze Stuhlreihen aufgestellt, und während sich die Zuschauer auf ihren wackeligen Sitzen zu halten suchten, riefen sie allerlei unflätige Bemerkungen zu der Menge hinunter. Als schließlich die graue Morgendämmerung wie Brackwasser die Gassen erfüllte, konnte man kaum mehr den Stundenschlag der Glocken hören, so schrill und aufgeregt war das Gejohle und Gegröle und der Gesang aller möglichen obszönen Verse. Man verstand davon zwar kaum ein Wort, aber der Name Hawke tauchte unweigerlich in jedem Refrain auf, auch wenn das Lied selbst nichts mit ihm zu tun hatte.
    Inmitten all des Tumults und Getöses wirkte das Schafott selbst ruhig und unauffällig – lediglich ein schwarzer Stumpf samt Kette, der aus dem Tor in der schwarzen Gefängnismauer herausragte, versehen mit Balken und Querbalken, die dem Tumult gleichsam den Rücken kehrten. Ein bescheidenes Gerüst, das kaum so viel Aufhebens wert schien.
    Mit Lady im Schlepptau bahnte sich Tom seinen Weg durch die Menschen. Nach jenem Abend war er vorsichtshalber in Deckung gegangen, darauf bedacht, den East Court zu meiden und sich nur in den dunklen geheimen Winkeln der Massenquartiere aufzuhalten, in die sich niemals Fremde wagten. Nachts schlief er auf einem Strohsack im Keller, Ladys warmen Körper auf den Knien und auf Schritte lauschend, während sie leise schnarchte. An jenem Abend in den Tunneln waren sie wie aus dem Nichts aufgetaucht, drei oder vier dieser Mistkerle, ohne jede Vorwarnung. Tom war nur der Bruchteil einer Sekunde geblieben, um sich ins Dunkel zu verdrücken. Er war nicht sicher, ob sie ihn nicht doch gesehen hatten. Zuerst hatte er geglaubt, Hawke hätte die Männer zu seinem Schutz bestellt. Aber dann hatte er es gehört. Sie hatten den Captain schnurstracks ins Gefängnis befördert. Wie sich herausstellte, gaben sie
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