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Der verletzte Mensch (German Edition)

Der verletzte Mensch (German Edition)

Titel: Der verletzte Mensch (German Edition)
Autoren: Andreas Salcher
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lauter Freude, dass wir wieder da sind, habe ich an der eigenen Türe geläutet, obwohl ich natürlich wusste, dass niemand da ist. Mein Stiefvater kam die Treppe rauf und regte sich fürchterlich auf, was mir einfalle, die Glocke zu läuten, weil diese so laut sei, dass man sie im ganzen Haus hören könne. Dann beauftragte er mich, mir selbst einen Stock zu suchen, mit dem er mich dann züchtigen werde. Ich habe mir genau überlegt, wie denn so ein Stock aussehen soll: dick oder dünn, lang oder breit? Wissend, dass der Schmerz gleich folgen wird. Das war natürlich noch viel schmerzhafter als das Geprügeltwerden. Denn das Geschlagenwerden hat natürlich gebrannt, und ich habe geweint, aber noch viel größer war die Kränkung im Herzen. Das hat fürchterlich wehgetan“, erzählt die heute 30-jährige Gerhild W. „Es war für mich in meiner Kindheit besonders schrecklich, mich auf etwas zu freuen, und dann, ohne mir einer Schuld bewusst zu sein, dafür bestraft zu werden. Daher bin ich bis heute sehr vorsichtig, mich über etwas zu freuen, weil ich immer Angst habe, jetzt kommt sicher gleich der Schlag drauf.“
    Gerhild W. hat später ihre Mutter gefragt, warum sie nie eingegriffen habe. Die Mutter verteidigte sich damit, dass sie selbst sehr autoritär erzogen wurde und bei ihr der Glaubenssatz „Damit aus einem Kind etwas wird, muss man es hart anfassen“ tief verwurzelt war.
    Wie der Mutter, so der Tochter
    Ihre Mutter vertraute Gerhild W. später eine eigene Geschichte an: Als sie als kleines Kind lernte, aufs Töpfchen zu gehen, passierte es ihr manchmal trotzdem, dass es vorher ins Höschen ging. Sie musste dann das nasse Höschen ausziehen und es wurde ihr von ihrem Vater über das Gesicht gelegt. Dann musste sie sich mit dem nassen Höschen über dem Kopf in die Ecke stellen. Gerhilds Mutter kann sich heute noch an jedes Detail erinnern und träumt auch mit 65 Jahren noch davon. „Ich glaube, sie hat mir die Geschichte als Entschuldigung dafür erzählt, warum sie bei mir auch dann selbst so autoritär in der Erziehung war. Meine Mutter hat ihre gesamte Emotionalität schon in der Kindheit und bis heute immer mit Tieren ausgelebt – weil Tiere nicht verletzen können. Sie hat kaum Freunde, das ist ihr alles nicht wichtig, ihr Glück sind ihre Tiere. Haustiere waren ihr aber als Kind verboten, sobald sie frei war, hat sie sich Hunde genommen. Heute lebt sie mit vielen Hunden und Katzen“, erzählt Gerhild W. über ihre Mutter.
    Etliche Studien zeigen, dass vor allem emotionale Kälte der Eltern, körperliche Misshandlung und ständige familiäre Spannungen zu den drei häufigsten Hauptbelastungsfaktoren von Kindern zählen, die sie oft ein Leben lang verfolgen. Emotionale Verletzung ist weit schwerer zu definieren als sexueller Missbrauch. Nur durch das Aufzeigen des Zusammenhangs zwischen den eigenen erlebten frühkindlichen Verletzungen und der Weitergabe offener und versteckter Gewalt an die nächste Generation kann dieser Teufelskreis gebrochen werden. Dazu müssen Eltern verstehen lernen, wie wichtig es für ihre Kinder ist, ihre Wut, ihren Ärger und ihre negativen Gefühle zeigen zu dürfen, ohne Angst haben zu müssen, deshalb ihre Liebe zu verlieren. [3] Dieser Wunsch, geliebt zu werden, ist die stärkste Antriebskraft unseres Lebens.
    Das Handbuch des romantischen Terrorismus
    „Liebst du mich eigentlich noch?“ ist die Frage, mit der das Undenkbare das erste Mal laut ausgesprochen wird. Immer von dem, der spürt, dass er bald verlassen werden wird. Liebe auf den ersten Blick gibt es, aber Liebe stirbt meist nicht in einem Augenblick. Sie zerbröckelt langsam wie altes Mauerwerk. Der Verlassene klammert sich an eine letzte Hoffnung, der schon im Aufbruch Befindliche wird von Schuldgefühlen geplagt, deren Intensität davon abhängt, ob aus der geistigen Untreue auch schon eine körperliche geworden ist. Wenn jede mögliche Entscheidung schwierig ist, wird überhaupt keine Entscheidung getroffen. Man trifft sich weiter, man schläft weiter miteinander oder zumindest nebeneinander und plant die nächste gemeinsame Urlaubsreise. Der, der gehen will, hofft, dass ihm die Entscheidung von jemand anderem abgenommen wird, wenn er nichts unternimmt.
    Sobald einer der Partner das Interesse am anderen verloren hat, kann der andere offenbar wenig tun, um den langsamen Verfallsprozess der Beziehung aufzuhalten. Es beginnt die Phase des romantischen Terrorismus. Der Liebende verfällt dem
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