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Der verletzte Mensch (German Edition)

Der verletzte Mensch (German Edition)

Titel: Der verletzte Mensch (German Edition)
Autoren: Andreas Salcher
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Machtkämpfen konnte er nur ganz schwer bewältigen. Dazu kam das in diesem Alter übliche Heimweh. Trotzdem wäre dieser Monat wohl schnell wieder aus seiner Erinnerung getilgt worden, wenn da nicht die Geschichte mit dem Messer gewesen wäre. Bei einem der vielen langen Wanderungen auf der Alm steckte ihm ein anderer Junge, kurz bevor sie wieder ins Heim zurückgekommen waren, ein kleines Messer, das dieser offensichtlich heimlich mitgenommen hatte, in Andreas’ kurze Lederhose. Bevor er sich noch dagegen wehren konnte, wurde das Messer von einer Betreuerin entdeckt. Diese nahm den Jungen sogleich ins Einzelverhör. Immer wieder erzählte er seine Geschichte und verteidigte seine Unschuld. Immer wieder wurde er aufgefordert, endlich mit dem Lügen aufzuhören und zu gestehen. Mit Versprechungen und Drohungen spielten dann gleich zwei Betreuerinnen das „Good Cop“- und „Bad Cop“-Spiel. Irgendwann gab er auf und gestand eine Tat, die er nie begangen hatte. Er gab zu, dass er das kleine Buttermesser heimlich aus der Küche mitgenommen hatte, um die anderen Buben zu beeindrucken.
    An die Strafe kann sich Andreas D. nicht mehr erinnern, sehr wohl aber an dieses Gefühl des schreienden Unrechts. Wann immer er später daran dachte, überkamen ihn vor allem Scham und Ärger, dass er damals zu schwach war, dem Druck standzuhalten. Und es wurde ihm noch immer ganz schlecht, wenn er an die grauenhaften dicken Suppen dachte, mit denen man ihn einen Sommer lang auf der Alm mästete. Seit damals war die gefährlichste Drohung, mit der die Eltern ihm in seiner Kindheit Schrecken einjagen konnten, die bloße Ankündigung, dass sie ihn in ein Internat stecken würden. Was seine Eltern nie taten. Die Schrecken, die Internate verbreiten können, lernte er daher nur aus Erzählungen von Freunden und den Schilderungen von berühmten Schriftstellern kennen.
    Gleichgültigkeit und Tabu
    Jahrhundertelang haben wir seelisches Leiden ausgeblendet – heute mehr denn je. Fast alle körperlichen Krankheiten sind dagegen sozial akzeptiert, manche gelten sogar als „in“, wie zum Beispiel die Meniskusoperation. Sie signalisiert, dass man in der Freizeit hoch aktiv ist, man kann sich mit Freunden darüber austauschen, wer den besseren Kniespezialisten kennt. Wenn man dagegen beginnen würde, am Arbeitsplatz von seinen Depressionen oder Angstgefühlen zu erzählen, dann wollte niemand davon etwas wissen, ja es gefährdete sogar den Arbeitsplatz. Dass man einen Psychotherapeuten aufsucht, vertraut man im besten Fall den engsten Freunden an. Dabei ist psychische Verletzung ein Thema, das vor niemandem haltmacht, nicht einmal vor dem einst stärksten Mann der Welt.
    Die größte Verletzung des Muhammad Ali
    An seinem 50. Geburtstag gab Muhammad Ali eine große Party, zu der auch Hollywoodstar Dustin Hoffman eingeladen war. Der ehemals größte Boxer aller Zeiten war schon sehr von Parkinson gezeichnet. Nach dem Fest, um fünf Uhr früh, rief Ali bei Dustin Hoffman an: „Mit vor Angst zitternder Stimme fragte er mich: ‚Habe ich einen Idioten aus mir gemacht? Sag mir die Wahrheit.‘“ – „Welch ein Zeugnis unser aller Verletzlichkeit!“, stellte Dustin Hoffman im Rückblick auf dieses Ereignis fest. [1]
    Muhammad Ali hat im Laufe seines Lebens mehr Schläge ausgeteilt, als er kassieren musste. Die härtesten Schläge hat er nicht von seinen Gegnern, sondern vom Leben einstecken müssen. Schlagen und geschlagen werden ist das Berufsrisiko eines Boxers, könnte man sagen.
    Doch auch im Alltag wird noch viel mehr geschlagen, als wir eigentlich wissen wollen. Und das nicht nur von krankhaften Alkoholikern oder artikulationsunfähigen Schlägertypen, die nur die Sprache des Straßenkampfs gelernt haben. Viele ganz normale Väter schlagen noch immer. Dahinter steht der Wunsch, ihren Kindern die Halsstarrigkeit, den Eigensinn und den Trotz auszutreiben. Schläge sind eine Form der Misshandlung, die so erniedrigend ist, weil sich das Kind nicht dagegen wehren darf und den Eltern sogar noch dankbar dafür sein soll. Die Skala der raffinierten Maßnahmen „zum Wohl des Kindes“ umfasst Lügen, Verschleierung, Manipulation, Ängstigung, Liebesentzug, Isolierung, Verachtung, Spott, Beschämung und Gewaltanwendung bis zur Folter. Sie alle hinterlassen tiefe, nie ausheilende Wunden in Kinderseelen. [2]
    Die Wahl der Waffen
    „Wir sind von einem Urlaub zurückgekommen und ich bin aus dem Auto herausgesprungen und die Stiegen hoch gelaufen. Aus
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