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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel
Autoren: Tom Harper
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Gesicht, und der Deutsche sank in sich zusammen. Grant schob ihn beiseite und sah hinab.
    Ein Blick verriet ihm, dass Pemberton den Raum nicht lebend verlassen würde. Die Wangen und Lippen des Archäologen waren sehr bleich, er hatte schon zu viel Blut verloren. Doch ein paar Tröpfchen Leben waren noch in ihm. Er hob einen zitternden Arm und zeigte auf etwas hinter Grant. Sein Mund straffte und spitzte sich abwechselnd, er verzog das Gesicht, wollte offenbar noch etwas sagen. Grant kniete sich neben ihn, brachte sein Ohr ganz dicht an Pembertons Lippen, während er mit dem Blick dem ausgestreckten Arm folgte. Dort, in der Ecke, lag aufgeschlagen ein kleines braunes Notizbuch auf dem Fußboden.
    «Arch …»
    Pemberton verstummte, röchelte heftig. Grant hob seinen Kopf an, drückte ihn an seine Brust. Er wollte ihn auffordern, nicht zu sprechen, seine Kräfte zu schonen, doch er wusste, dass es sinnlos war. Wenn der alte Mann noch etwas zu sagen hatte, sollte er es ruhig versuchen.
    Weiße Hände krallten sich, mit plötzlich erneuerter Kraft, in Grants Kragen. Leben kam in die trüben Augen, die ihn direkt fixierten. «Archanes», flüsterte er. «Das Haus mit den Aprikosenbäumen. Bringen Sie … es ihr.»
    Dann erschlafften die Hände, die Augen fielen zu, und Grant nahm den vertrauten, beißenden Uringeruch des Todes wahr.
    Er trug den toten Archäologen hinaus ins Freie und bettete ihn in die offenen Grundfesten des Palastes. Zum Schutz vor Aasfressern bedeckte er den Leichnam mit Steinen. In einen Stein war ein seltsames Symbol geritzt, mit drei Zinken, wie eine Heugabel oder ein Dreizack, und diesen benutzte er als Grabstein. Anschließend nahm er den toten Fallschirmspringern alles an Waffen und Munition ab, was er noch finden konnte, und lud den Webley nach. Dann machte er sich, wie die Helden von einst, auf den Weg in die Schlacht.

EINS
    Oxford, März 1947
    « Zorn . Dieses Wort, das erste, das in der Literatur des Abendlandes je schriftlich festgehalten wurde, gibt das Thema für alles Darauffolgende vor.»
    Der Student blickte von seinem Aufsatz hoch, offenbar in der Hoffnung auf eine Reaktion. Ein Paar blassblauer Augen starrte stur über seine Schulter hinweg und musterte versonnen die Eisblumen, mit denen das Fenster zur Hälfte überzogen war. Im Kamin zischte und knisterte ein Feuer, das jedoch kaum etwas gegen die klirrende Kälte auszurichten vermochte, die ganz England seit Januar heimsuchte. Schon gar nicht in den zugigen mittelalterlichen Räumlichkeiten eines Colleges in Oxford, in dessen Mauern die klamme Feuchtigkeit von fünfhundert Jahren steckte.
    Nach einem Räuspern fuhr der Student fort. «Alle Figuren der Ilias werden durch den Zorn bestimmt. Manche glauben, ihn manipulieren zu können; andere werden von ihm überwältigt. In den meisten Fällen finden sie deswegen den Tod, was auch erklärt, warum diese Erzählung bis heute, fast dreitausend Jahre nachdem Homer sie verfasst hat, eine so starke Wirkung auf uns ausübt. Ein Blick in die jüngere Geschichte lehrt, dass Zorn und Gewalt weiterhin die Leidenschaften sind, welche die Welt beherrschen. Die Ilias erzählt nicht von der Vergangenheit, sondern von der Gegenwart. Wir können nur hoffen, dass wir, wie Achilles, unseren Zorn und unseren Stolz letzten Endes durch unsere Menschlichkeit überwinden lassen und eine bessere, gerechtere Zukunft schaffen.»
    Der Student hielt inne. Ihm gegenüber in dem mit Büchern gefüllten Zimmer runzelte Arthur Reed, Professor für klassische Philologie, die Stirn.
    «Habe ich etwas Falsches gesagt?»
    Die blauen Augen glitten von dem Fenster weg und richteten sich auf den Studenten. «Ein Gedicht.»
    Der Student blinzelte verwirrt. «Entschuldigung?»
    «Es handelt sich um ein Gedicht. Nicht um eine Erzählung.»
    Der Student verzog kurz unwillig das Gesicht, schluckte aber jegliche Widerrede herunter und senkte den Blick auf seinen Aufsatz. «Soll ich weiterlesen?»
    Reed lehnte sich in seinem Sessel zurück und seufzte. Der Krieg hatte alles verändert. Die Studenten in den Dreißigern waren noch unbedarfte Jungen gewesen, stets um Wohlverhalten bemüht und leicht zu beeindrucken. Diese neue Generation war anders. Was konnte er, der den Krieg hinter einem Schreibtisch verbracht hatte, ihnen über Helden beibringen?
    Ein sachtes Klopfen an der Tür unterbrach die Sitzung. Ein Pförtner tauchte auf und nickte mit dem Kopf, den Studenten geflissentlich übersehend. «Bitte um Verzeihung, Herr
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