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Der vergessene Strand

Der vergessene Strand

Titel: Der vergessene Strand
Autoren: Julie Peters
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standen, und sie räumte ihre eigenen ein. Der Schweiß klebte ihr auf der Haut, und sie war müde. Jede Ablenkung war willkommen.
    Nur Emmett gönnte sich keine Pause. Nachdem er alle Kartons ausgeladen hatte, verkündete er, dass er in den Baumarkt fahren würde, um Tapeten zu kaufen – das Kinderzimmer unterm Dach müsse ja wohl dringend renoviert werden. Amelie wollte protestieren.
    «Lass ihn», sagte Diana. Ihre Augen glänzten. «Er wird’s schon richtig machen. Für so was hat er ein Gespür.»
    Sie sollte recht behalten. Anderthalb Stunden später kam er wieder, die drei Frauen saßen immer noch unter dem Birnbaum im Schatten. Er schleppte Eimer, Farbrollen, Tapeten und Zubehör nach oben. In der Ferne erklang ein erstes Donnergrollen, der Himmel war von einem gelblichen Schleier überzogen. Ein unheimliches Licht, das Amelie ängstigte. Sie zog sich ins Haus zurück, während Mathilda und Diana draußen blieben und sich angeregt unterhielten.
    Im Schlafzimmer legte sie sich aufs Bett. Die Jalousien waren bei weit offenem Fenster heruntergelassen, weil es längst keinen Unterschied mehr machte, ob es offen stand oder nicht; überall herrschte inzwischen diese unerträgliche Hitze. Sie schloss erschöpft die Augen.
    Die Erinnerung kam so klar und plötzlich, dass es wie ein Schlag ins Gesicht war.
     
     
    «Amy, Amy! Schau nur, die Blitze!»
    Sie fuhr auf. Verschlafen fragte sie sich, wo sie war. Wer sie war.
    «Komm, Amy! Wir setzen uns an den Strand und zählen die Blitze!»
    Paddick lief voran. Sie musste sich anstrengen, dass er ihr nicht entwischte. Immer waren ihre Beine zu kurz, um mit ihm Schritt zu halten. Paddick kraxelte die Düne hinauf und verschwand aus ihrem Blickfeld. Amy war nach Weinen zumute. Er sollte nicht einfach weglaufen! Sie hatte doch Angst bei Gewitter!
    Aber so war ihr großer Bruder eben. Wenn ihn etwas begeisterte, riss es ihn einfach fort, und sie stolperte hinterdrein.
    Heißer Wind peitschte das Meer. Das Licht war irgendwie komisch, so hatte sie den Strand noch nie erlebt, ganz merkwürdig schwefelgelb und menschenleer. Das passierte im Sommer nie! Dieses Stückchen Strand gehörte zwar ihnen – zumindest behauptete Paddick das –, aber immer waren Leute auf dem Pfad etwas weiter oben unterwegs, und sie ließen sich von diesem Streifen hellen Sands anlocken. Sie brachten Kühlboxen und Sonnenschirme und ihre ganzen Familien mit.
    Es war schön, mit anderen Kindern am Strand Burgen zu bauen. Amy gefiel nur nicht, wie diese Kinder immer aus ihrem Leben verschwanden und nie zurückkehrten.
    Paddick war ihr bester Freund. Aber auch der einzige, den sie hatte.
    «Paddick, warte!» Sie lief schneller. Aber irgendwie hatte sie einen falschen Weg die Düne hinaufgenommen. Oben angekommen verschnaufte sie. Unterhalb des Dünenkamms ergab sich eine kleine, von Strandhafer gesäumte Senke. Darin lag, auf einer Decke, Mama. Nicht allein – Onkel Reggie war bei ihr. Er war oft bei ihnen, aber meist behielt er dabei seine Sachen an.
    Nacktheit war für Amy nichts Neues. Paddick und sie wurden jeden Samstag gemeinsam in die Badewanne gesteckt. Sie kannte den Unterschied zwischen Junge und Mädchen, Mann und Frau. Sie wusste, was Mann und Frau miteinander machten, wenn sie sich lieb hatten. So wie Mama und Dad.
    Sie hatte nicht gewusst, dass Mama das auch mit Onkel Reggie machte.
    Für ihren kindlichen Verstand wäre nichts daran falsch gewesen, doch weil ihre Mutter und ihr Onkel so hastig versuchten, ihre Blöße zu bedecken, wusste Amy sofort, dass es nicht recht war, wenn Mama mit anderen Männern so lieb wurde. Stocksteif blieb sie stehen und sah zu, wie beide ihre nackte Haut verhüllten. Und die ganze Zeit stand Amy vor den beiden und schaute zu.
    «Nun geh schon, Amy!», rief ihre Mutter beinahe verzweifelt. «Patrick ruft dich.»
    Endlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung. Sie lief los, quer durch die Senke, aus der die beiden Erwachsenen sich jetzt erhoben hatten, und auf der anderen Seite die steile Düne hinab. Sand rieselte unter ihren Füßen, klebte an ihren Knien und Händen. Sie lief schneller. «Paddick, Paddick!» Sofort wollte sie ihm erzählen, was sie gesehen hatte. Ob er das auch schon mal beobachtet hatte, wie Erwachsene sich lieb hatten? Durften sie das auch machen? Oder war dieses Spiel den Erwachsenen vorbehalten?
    Paddick stand direkt am Wasser, das von den Gewitterböen aufgepeitscht wurde. Blitze zuckten nieder, sie schienen sich im Meer zu
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