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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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der Peitsche auf das dichte Gedränge von Wagen und Fuhrwerken aller Art, die die Straßen verstopften.
    Tom wickelte sich in die Decke, die neben ihm auf dem Sitz lag, und wappnete sich für eine lange Fahrt. Er schaute hinaus auf die Straßen, ohne wirklich wahrzunehmen, was er sah. Die Menschen bewegten die Münder, ohne dass Laute an sein Ohr drangen, er hörte weder die fröhlichen Rufe der Kinder noch das Geschrei zweier Fuhrknechte, die an einer Kreuzung zusammengestoßen waren und einander aufgebracht beschimpften. Er hörte nur ihre letzten Worte und das Geräusch der Tür, die hinter ihr ins Schloss gefallen war.
    Charlotte wusste nicht mehr, wie sie in den Wagen gelangt war. In ihrer Erinnerung klaffte eine Lücke, doch nun saß sie warm und konnte die Augen schließen. Die Fahrt nach Clerkenwell, bei der sie so fasziniert aus dem Fenster geschaut hatte, schien ewig her.
    Du bist zu empfindlich, schalt sie sich, Tom hatte Besuch gehabt, alte Freunde, die ihn weit länger kannten als sie selbst. Das war sein gutes Recht. Die Leute waren freundlich zu ihr gewesen, und sie hatte sich lächerlich verhalten. War davongerannt, ohne sich zu verabschieden, hatte eine Szene gemacht, die Fassung verloren, während sie doch in den bewegten Monaten, die hinter ihr lagen, immer die Ruhe bewahrt hatte. So etwas passte nicht zu ihr. Vielleicht war es die Nachwirkung der tragischen Geschehnisse, vielleicht brachen sich die unterdrückten Ängste der letzten Zeit endlich Bahn. Vielleicht …
    Sie presste die Lippen aufeinander und schaute hinaus in den dunklen Winterabend. Die Stadt erschien ihr auf einmal kalt und abweisend, und sie fragte sich, warum sie sich hier willkommen gefühlt hatte. In London gab es nichts, das sie hielt, sie war fremd hier und würde es bleiben. Selbst wenn sie eine neue Stelle fand, wäre nichts mehr wie zuvor. Etwas war zerbrochen, verloren gegangen, ihre Abenteuerlust oder die Euphorie des Aufbruchs, die sie empfunden hatte, als sie aus Berlin abgereist war. Sie erinnerte sich an die Überfahrt nach Dover, wie sie den Kopf in den Wind gereckt und sich die Küste förmlich herbeigewünscht hatte. An die Fahrt in der Kutsche von Dorking nach Chalk Hill, die erste Begegnung mit Emily, den Zauber, den das Haus und der Wald anfangs auf sie ausgeübt hatten.
    Das alles hatte sie verloren. Sie stand mit leeren Händen da.
    Und da war noch mehr, doch an den eigentlichen Kern, an das, was am meisten schmerzte, wollte sie nicht rühren. Wenn sie sich an diesen Ort in ihrem Inneren begab, würde sie nicht mehr zurückfinden, und davor fürchtete sie sich mehr als vor allem anderen. Wenn sie diese Gefühle zuließ, war sie verloren.
    Die Haushälterin sah ihn überrascht an. »Die Familie ist auf unbestimmte Zeit verreist, Sir. Ich bin dabei, die Wohnung zu schließen.«
    »Ich weiß, ich wollte nur … Wissen Sie, wo ich Miss Pauly finde?«
    Mrs. Clare lächelte. »Eine so freundliche junge Dame! Miss Emily hätte sich gewiss gefreut, wenn sie mitgefahren wäre, die beiden schienen sich so gut zu verstehen.«
    »Bitte, haben Sie eine Adresse?«, fragte er noch drängender als zuvor.
    »Verzeihung, ich schwatze daher, und Sie haben es eilig. Einen Augenblick, bitte.« Sie verschwand in der Wohnung und kam mit einem Zettel zurück. »Hier, das ist alles, was ich habe.« Sie hielt ihm eine Visitenkarte hin.
    Es war die Adresse einer Vermittlungsagentur für gehobenes Lehr- und Erziehungspersonal, so jedenfalls stand es auf der Karte.
    »Sonst nichts? Keine Privatanschrift?«
    Mrs. Clare schüttelte den Kopf. »Nein. Bedauere, Sir. Aber ich weiß, dass sie auch Miss Emily diese Adresse gegeben hat. Daher kann es nicht falsch sein, dort nachzufragen.« Ihre Augen blickten warm und mitfühlend.
    »Ich danke Ihnen. Darf ich?« Er notierte sich die Adresse von der Karte und gab sie der Haushälterin zurück. »Ich wünsche einen angenehmen Abend.«
    Draußen vor der Tür sah er auf die Uhr. Kurz vor halb sieben. Vermutlich würde er um diese Zeit niemanden mehr in der Agentur antreffen, doch er musste es versuchen. Er zog den Schal fester um den Hals, winkte einem Wagen und setzte seine Suche fort.
    Das Zimmer wirkte noch trübseliger als zuvor, und sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ließ Charlotte ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte um Emily, die ihrem Herzen so nahegekommen war; um deren Mutter, die einen Weg aus ihrer unglücklichen Ehe gesucht und damit die Familie zerstört hatte; um
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