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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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ihm klar, dass ihm nichts als sein Atem geblieben war. Aber das war schon viel.
    Er stürmte auf den nächsten Hangar zu. Der wievielte war es? Der siebte? Oder der neunte? War er schon am Ende des Bunkers angekommen? Er hatte den Überblick verloren.
    Anaïs! Die Chancen standen eins zu drei, dass er und sie Toinins Spiel gewannen. Entweder war sie hinter ihm und er drehte sich nicht um – dann entkamen sie alle beide. Oder sie war nicht hinter ihm. Dann hatte er bereits verloren. Oder sie war zwar da, aber er beging den Fehler, sich nach ihr umzuschauen. Nur ein einziges Mal nach ihr umzuschauen …
    Plötzlich erblickte er vor sich eine geschlossene Mauer. Es gab keinen weiteren Hangar. Er war angekommen. Ein Blick nach unten zeigte ihm eine halb geöffnete Tür, die am Fuß der Treppe vom letzten Kai abging. Toinin hatte nicht gelogen. Dort unten war der Ausgang, nur wenige Meter unterhalb seines Standortes. Er brauchte nur noch hinunterzugehen und zu fliehen.
    Der Abstieg jedoch würde höllisch werden. Nein! Dabei musste er Anaïs helfen! Die letzten Meter würden sie gemeinsam zurücklegen. Er drehte sich um und erblickte die junge Frau am anderen Ende des Laufgangs. Er sah ihre dunklen Augen und ihr weißes Gesicht und erinnerte sich ihres ersten Zusammentreffens. Der Schrei. Die Milch. Alice im Albtraumland …
    Im gleichen Augenblick begriff Kubiela, dass er versagt hatte. Genau wie in der Sage.
    Schon tauchte der Mörder hinter Anaïs auf. Er trug die Maske des Uranus-Mordes – das nach einer Seite hin verzerrte Gesicht, der Mund wie eine Kreissäge –, war in einen pelzigen Mantel gehüllt wie ein anatolischer Hirte und schwenkte eine altertümliche Waffe aus geschmiedeter Bronze oder Feuerstein.
    Kubiela stürzte auf Anaïs zu, doch es war zu spät. Toinin ließ seine Axt niedersausen. Ehe die tödliche Klinge jedoch den Schädel des Opfers erreichte, wälzte sich eine düstere Wasserwand brüllend über den Laufgang. Der Ozean riss Henker und Opfer mit sich fort.
    Die Welle hatte die Ausmaße eines mehrstöckigen Hauses. Kein Mensch und kein Gott kann diesen Tausenden Kubikmetern tosenden Wassers trotzen, fuhr es Kubiela durch den Kopf, ehe er selbst weggeschwemmt wurde. Mit dem Kopf voran rauschte er über das Geländer und versank im Nichts.

I n der brodelnden Wasserhölle glaubte Anaïs Arme und Beine zu verlieren, ohne Schmerzen zu empfinden. Sie schwebte, schwamm, bewegte und drehte sich, ohne dass ihr etwas geschah. Sie löste sich in der Welle auf. Sie zerschmolz mit ihr, wurde flüssig, lang und glatt.
    Noch einmal sah sie die Daguerreotypien vor sich, die Toinin ihr gezeigt hatte, ehe er sie betäubte. Sie waren gleichzeitig hell und dunkel gewesen. Durch den Kontrast hindurch schauten die Opfer sie an. Der Minotaurus, Ikarus und Uranus. Ihre eingefrorenen Gesichter schimmerten im Wasser wie Leuchtalgen. Sie waren Helden in einer Welt der Götter und Sagen. Ich bin tot , dachte sie. Oder ich träume .
    Die Welle fegte alle Bilder fort. Anaïs spürte, wie sie hochgehoben, gedreht und fallen gelassen wurde. Der Sog zerrte sie in einem Wirbel von salzigem Schaum über Betonkanten.
    Sie versuchte zu begreifen. Das Meer hatte sie eingeatmet, aus dem Bunker mitgerissen und schließlich einige Meter weiter oben auf eine glatte, harte Oberfläche katapultiert. Das Dach des Bunkers . Sie war der Falle entkommen. Auf die harte Tour.
    Ihr erster Gedanke galt Freire. Wo mochte er sein? Sie war ihm durch das wild tobende Wasser über den Laufgang gefolgt und hatte sich mehr schlecht als recht festgehalten. Freire hatte sich nicht umgeblickt. Er hatte Wort gehalten. Innerlich dankte sie ihm dafür. Toinin folgte ihr wie ein böser, nach Blut dürstender Geist auf dem Fuß und belauerte seinen Orpheus, jederzeit bereit, den erwarteten Ausgang des Mythos herbeizuführen. Im allerletzten Moment war Freire schwach geworden. Er hatte sie angeschaut. Noch immer sah sie vor sich die Bestürzung und Verzweiflung in seinen Augen, als er begriff, dass er versagt hatte.
    Die Welle brach sich an einer Betonwand. Wasserblasen wurden zu tausend Sternen in ihrem Schädel. Plötzlich stand sie aufrecht, ohne zu wissen, wieso. Irgendwie hatte sie Körper, Gliedmaßen und Kraft wiedergefunden. Das Wasser, das noch Augenblicke zuvor hart wie Stein gewesen war, zog sich schäumend zurück.
    Anaïs versuchte sich zurechtzufinden. Sie befand sich auf dem Dach der U-Boot-Basis, umgeben von Betonmauern, als ob die Fläche in
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