Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
wie der Mörder etwas neben dem Kopf des Opfers aufgehoben hat. Seiner Ansicht nach war es ein Lippenstift - aber er hat das Ding nicht von nahem gesehen. Er hat geglaubt, bei dem Mörder handle es sich um eine Frau.«
    »Was noch?«
    Louis setzte sich wieder. Loisel hatte sich beruhigt.
    »Das Gedicht, das ich dir neulich gezeigt habe. Die Sache ist inzwischen ernst, sehr ernst. Das Gedicht hat letztes Jahr vor Weihnachten zwei Monate in der Metro gehangen. Ich hätte gern, daß du die Rue de la Lune, die Rue du Soleil und die Rue du Soleil d'or abriegelst. Und daß du alle alleinstehenden Frauen warnst, die dort wohnen. Die Straßen sind nicht lang.«
    »Worauf willst du mit deiner Metrogeschichte hinaus?«
    »Angenommen, der Mörder ist ein Erleuchteter, ein Paranoiker, ein Besessener ...«
    »Ganz bestimmt«, entgegnete Loisel achselzuckend. »Und? Du glaubst doch wohl nicht, daß er sich ein Gedicht aussucht, um sich auf seinem Weg nicht zu verlaufen, oder?«
    »Nein, das Gedicht hat sich ihn ausgesucht. Angenommen, dieser Typ will alle Frauen des Planeten abmurksen, aber angenommen, er ist nicht so bescheuert, um in einem endlosen Massaker die eigene Haut zu riskieren? Angenommen, daß er, der ängstlich, manisch und berechnend ist, beschließt, nur eine Auswahl abzumurksen, aber eine bestimmte, signifikante Auswahl, die alle Frauen symbolisiert? Das Einzelne für das Ganze?«
    »Was weißt du davon?«
    »Nichts. Aber so würden meine Überlegungen aussehen.«
    »Aha. Gute Nachricht. Und was würdest du an seiner Stelle tun?«
    »Ich würde einen Schlüssel mit einer bestimmten Bedeutung suchen, um meine Auswahl zu treffen.«
    »Und das wäre dann das Gedicht?« fragte Loisel höhnisch.
    »Das wäre das Gedicht, dem ich viermal in der Metro begegnet bin, oder irgend etwas anderes, worauf das Schicksal mich stoßen würde: ein Bild auf einem Zuckerpapier oder ein Blatt mit Schulaufgaben irgendwo im Rinnstein, ein Besuch der Zeugen Jehovas oder eine Wahrsagerin vor dem Supermarkt, dreimal dieselbe Anzahl von Treppenstufen an einem Tag, der Text eines Liedes an einem Abend in der Kneipe oder ein Artikel in der Zeitung ...«
    »Machst du dich über mich lustig?«
    »Hast du nie fünfmal deinen Zucker im Kaffee umgerührt und es vermieden, unter einer Leiter durchzugehen?«
    »Nie.«
    »Pech für dich. Aber ich sage dir, so funktioniert das und zwar noch hundertmal schlimmer, wenn du eine fette Fliege im Helm hast.«
    »Bitte?«
    »Wenn du eine Macke hast. Und die Fliege des Mörders ist eine schreckliche Fliege, die von den verdammten Zeichen des Schicksals, von denen der Alltag voll ist, profitiert. Er hat das Gedicht von seinem Klappsitz aus gesehen, ›Ich bin der Finstre, der Beraubte, der Untröstliche ... ‹ , ein Anfang, der einen packt, oder? Als er am Abend nach Hause gefahren ist, hat er es noch mal gesehen: Eingequetscht in einem überfüllten Wagen, ist er mit der Nase auf die Zeilen gestoßen ... ›Der Fürst von Aquitanien, dessen Turm in Trümmer sank‹ ... Und vielleicht am nächsten und am übernächsten Tag noch einmal ... ›Die Seufzer der Heiligen und die Schreie der Fee‹ ... Verlockend für einen Vergewaltiger, glaubst du nicht? Ein dunkler, kryptischer Text, in dem jeder seine Verrücktheit unterbringen kann ... Er sucht ihn, er wartet auf ihn, und er findet ihn ... Und am Ende nimmt er ihn an, er nimmt ihn in sich auf und macht daraus den Dreh- und Angelpunkt seines mörderischen Wahns. So funktioniert das mit bestimmten Fliegen.«
    Loisel spielte zweifelnd mit seinem Stift.
    »Du mußt diese Straßen markieren«, sagte Louis nachdrücklich. »Du mußt alle Gebäude aufsuchen, Loisel, verdammt!«
    »Nein«, erwiderte Loisel entschlossen und drückte sich das Radiergummiende seines Stiftes gegen die Stirn. »Ich habe dir schon gesagt, was ich davon halte.«
    »Loisel!« wiederholte Louis und schlug mit der Hand auf den Tisch.
    »Nein, Deutscher, da mache ich nicht mit.«
    »Ist das damit erledigt? Du läßt den Dingen ihren Lauf?«
    »Tut mir leid, Alter. Aber danke wegen der Mordfälle von Nevers.«
    »Nichts zu danken«, brummte Louis und wandte sich zur Tür.
     
    Verärgert und beklommen billigte sich Louis auf dem Weg das Recht zu, an allen fünf Nägeln der linken Hand zu kauen, der Hand des Zweifels und der Verwirrung. Unterwegs hielt er an, um in einem Café was zu essen. Dieser bornierte Idiot von Loisel. Was konnten sie zu viert ausrichten? Wenn er wenigstens den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher