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Der Unheimliche Weg

Der Unheimliche Weg

Titel: Der Unheimliche Weg
Autoren: Agatha Christie
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noch einmal einen Sprung hinüber machen, und ich könnte Sie dort herumführen und Ihnen alles zeigen. Nur so lernt man einen Ort richtig kennen.«
    Miss Hetherington erhob sich sichtlich verärgert.
    »Das ist echt amerikanisch«, sagte sie, als Mrs Baker gegangen war, um ihre Reisevorbereitungen zu treffen, »von einem Platz zum andern rennen – heute in Ägypten, morgen in Palästina. Sie wissen manchmal gar nicht, in welchem Land sie gerade sind.«
    Sie presste die Lippen zusammen, packte sorgfältig ihr Strickzeug zusammen und verließ Sylvia mit einem flüchtigen Nicken.
    Sylvia setzte sich in dem dämmrigen Raum auf einen Diwan und dachte an die Zukunft. Noch gestern Früh hatte sie gar nicht recht an ihre Mission geglaubt. Und nun sollte sie schon heute ihre gefährliche Reise antreten. Sie musste sehr, sehr vorsichtig sein, um sich nicht zu verraten. Sie musste Olivia Betterton spielen, die nicht sehr gebildete, amusische, aber ihrem Mann blind ergebene Ehefrau. Wie fremd sie sich doch in Marokko fühlte, diesem geheimnisvollen Land voll orientalischen Märchenzaubers!
    Sie sah auf die matt brennende Lampe, die neben ihr stand. Würde ihr wohl ein Dschinn erscheinen, wenn sie, wie Aladin, ihren kupfernen Sockel rieb? Und bei diesem Gedanken angelangt, erstarrte sie. Denn, als sei ihr Gedanke Wirklichkeit geworden, erschien über der Lampe das faltenreiche Antlitz von Monsieur Aristides. Er verbeugte sich höflich, ehe er sich an ihrer Seite niederließ und sagte:
    »Sie erlauben, Madame?«
    Sylvia neigte den Kopf. Er bot ihr eine Zigarette an und nahm sich selbst eine.
    »Wie gefällt Ihnen dieses Land, Madame?«, eröffnete er die Unterhaltung.
    »Ich bin erst zu kurz hier, um mir schon eine Meinung bilden zu können. Aber es scheint sehr schön zu sein.«
    »Sind Sie auch im alten Fes gewesen, und hat es Sie beeindruckt?«
    »Ich finde es wunderbar.«
    »Ja, es ist auch wunderbar. Hier hat sich der ganze Zauber des Orients in den winkligen, alten Gassen erhalten. Wissen Sie, was ich denke, Madame, wenn ich durch diese Gassen schlendre?«
    »Nun?«
    »Ich denke an Ihre große Geschäftsstraße in London. Ich denke an die großen Fabriken und an ihre von Neonlicht erhellten Arbeitsräume, in denen die Menschen von draußen bei ihrer Arbeit beobachtet werden können. Da gibt es nicht einmal Vorhänge an den Fenstern. Es ist so, als habe man einem Ameisenhaufen die Kuppe abgeschnitten.«
    »Sie wollen damit sagen, dass es der Gegensatz ist, der Sie fasziniert?«, fragte Sylvia lebhaft.
    »Ja«, nickte Aristides, »hier in Fes ist alles düster, verborgen, alles spielt sich im Dunkeln ab. Aber« – er beugte sich vor und tippte mit dem Finger auf die kupferne Platte des Tischchens – »hier wie dort finden Sie doch dieselben Dinge, die gleichen Grausamkeiten, die gleichen Formen der Unterdrückung, den gleichen Machthunger, die gleiche Profitgier.«
    »Dann wollen Sie also sagen, dass die menschliche Natur überall die gleiche ist?«
    »In jedem Land, Madame. Und sowohl in der Vergangenheit wie in der Gegenwart herrschen zwei Mächte: Grausamkeit und Barmherzigkeit. Die eine oder die andere. Manchmal sogar beide zugleich.«
    Ohne Übergang wechselte er das Gesprächsthema.
    »Man hat mir gesagt, Madame, dass Sie eines der Opfer des Flugzeugabsturzes in Casablanca sind?«
    »Ja, das stimmt.«
    »So beneide ich Sie«, erklärte Aristides.
    Sylvia sah ihn bei dieser unerwarteten Schlussfolgerung erstaunt an.
    Er nickte bekräftigend: »Ja, Sie sind zu beneiden. Sie haben ein wirkliches Erlebnis gehabt. Ich möchte gern so haarscharf am Tode vorbeigegangen sein wie Sie. Sind Sie seitdem nicht ein ganz anderer Mensch geworden, Madame?«
    »Ja, ich habe dieses Gefühl zuweilen, aber es ist ein sehr unangenehmes Gefühl. Ich leide seitdem an bösen Kopfschmerzen, und mein Gedächtnis hat sehr nachgelassen.«
    »Das sind Nebensächlichkeiten«, erwiderte Aristides mit einer wegwerfenden Handbewegung, »verglichen mit der Bedeutung des vorangegangenen Erlebnisses.«
    »Ja, in gewisser Beziehung habe ich eine innere Umwandlung durchgemacht«, sagte Sylvia langsam. Aber sie dachte dabei nicht an den Flugzeugabsturz der Olivia Betterton, sondern an vier gewisse kleine Päckchen.
    »Sehen Sie«, sagte Monsieur Aristides unzufrieden, »und ich habe so vieles erlebt, aber eine solche Erfahrung fehlt mir.«
    Er stand auf, verbeugte sich mit den Worten: »Mes ho m mages, Madame«, und ging.

8
     
    F lugplätze sehen doch
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