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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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absoluterMonarch. Bei wichtigen Entscheidungen zog er zwar die älteren Mönche zu Rate, aber sein Wort war am Schluß Gesetz, und dagegen gab es keine Berufung. Außer in Irland, wo sich aus der keltischen Stammestradition unter Columban ein eigenes Klosterwesen entwickelte, wurden Benedikts Vorstellungen bestimmend für das europäische Klosterleben.
    Ein richtiger Orden – und auch das nur als eine lose Föderation autonomer Abteien – werden die Benediktiner erst im Jahr 910 mit der Gründung von Cluny, der Abtei, die in den darauffolgenden Jahrhunderten einen solch gewaltigen politischen und kulturellen Einfluß haben sollte. Mitte des zwölften Jahrhunderts gab es in Europa – bis nach Polen und Schottland hinein – über dreihundert Klöster, die direkt oder indirekt von Cluny beeinflußt waren, und sie alle unterstanden dem Abt von Cluny. Der liturgische Teil des Tages gewann an Bedeutung, das Singen der Chorgebete nahm immer mehr Zeit in Anspruch, die einfache Handarbeit verschwand, die religiöse Verfeinerung, sowohl im Gesang als auch in der Bauweise und der Ausschmückung, nahm zu.
    Die Reaktion darauf kam von Bernhard von Clairvaux. Mit etwa dreißig anderen jungen Männern war er in das notleidende Benediktinerkloster Cîteaux eingetreten, von dem sich der Name Zisterzienser herleitet. Was er wollte, war die Rückkehr zur Urregel des Benedikt von Nursia. Der liturgische Teil wurde beschnitten, alle übertriebene Ornamentik abgelehnt, und unter seinem Einfluß entwickelte sich der Zisterzienserstil, roh, robust, einfach, nobel. Wer das Benediktinerkloster im niederländischen Oosterhout und das Trappistenkloster Achelse Kluis bei Valkenswaard besucht, kann den Unterschied deutlich feststellen. Trappisten sind eine spätere, strengere Variante der Zisterzienser, ihr Leben ist bäuerlicher und rauher. Die Benediktiner sind ein aristokratischerer Orden, intellektueller, verfeinerter. Selbst meine ungeübten Ohren hörten den einen Benediktiner, der bei den Trappisten zu Gast war, sofort heraus: Seine Stimme wirkte ein wenig prononcierter, schallender als die der anderen. Er benutzteseine Hände nicht auf dem Feld oder in der Bierbrauerei, sondern um Mitren zu besticken.
    Am seltsamsten bei alledem finde ich das Wirken der Zeit: daß die Geschichte, die ich hier in hundert Zeilen erzählt habe, noch immer gültig ist – daß all diese Veränderungen und Varianten, die hier so leichthin aufgezählt werden, in Wirklichkeit Hunderte von Jahren in Anspruch nahmen – und daß die Essenz dieselbe geblieben ist, so daß jetzt wie damals und einst aus der Ferne wieder dieses Geräusch von Leder auf Stein näher kommt, der Gästepater, der mir mitteilt, meine Zeit sei um. Er trägt noch immer das gleiche Gewand, das seine Ordensbrüder vor fast tausend Jahren schon trugen, eine weiße Kutte und darüber ein schwarzes Skapulier. Es gibt die Zeitmaschine wirklich: In einer Kapsel bin ich, gegen Tod und Unheil geschützt, in die Tiefen des für immer entschwundenen Mittelalters hinabgelassen worden. Wo ich jetzt bin, leben sie weiter, wie in Reinkultur existiert diese Lebensform auch in unserem, dem inzwischen zwanzigsten Jahrhundert. Gleich werde ich da wieder ankommen, ein Fremder, der in einem Auto durch das Land Aragonien fährt.
    1981

E INE R EISE DURCH N AMEN UND Z EITEN
    Die Tür des Klosters Veruela ist hinter mir zugefallen. Ich höre es hohl durch die alte Stille hallen, ich bin wieder in der Welt der Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen.
    Wohin soll ich fahren? Das weiß ich bereits, ich fahre nach Soria, aber wie soll ich dorthin fahren, welchen Weg soll ich nehmen? Am Ende der dunklen Auffahrt rollt die Hitze der Mittagssonne wie ein Ball über die Landschaft. Ich habe zwei Karten, von Michelin und von Hallwag. Sie beschreiben dasselbe Land und dieselben Straßen, und doch scheint es, als stimme das Hallwagsche Spanien mehr mit der Leere und Stille rundum überein. Die Haut des Landes sieht auf der Hallwag-Karte viel verwitterter aus als auf der Michelin-Karte, die leichten Riffel im Flachland sind mit feinabgestuften Grau-, hellen und noch helleren Grautönen angegeben. Die Michelin-Karte kennt nur eintöniges Weiß und eintöniges Grün, das Rot der großen Straßen ist aggressiver, und so fühlt es sich in Wirklichkeit nicht an, dafür sind sie in dieser Provinz zu verlassen. Auf der Hallwag-Karte sind dieselben Straßen gelb, das macht sie kümmerlicher, verworfener, so wie sie sich auch
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