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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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unscheinbaren Dörfer, in denen Kirchen und Klöster die Erinnerung an einstige Größe bewahren. Mit der gemeißelten Kalligraphie ihres Baustils beschwören sie die Erinnerung an verschwundene arabische Herrscher herauf. Hier ist die Zeit wirklich geschmolzen und danach für immer erstarrt. Der Reisende sieht die weißen Flecken auf der Landkarte immer größer werden, hierüber gibt es nichts zu berichten, er fühlt sich verloren in einem jahrhundertetiefen Abgrund, drohendumstellt von Ruinen. Der heiße Wind rollt mit ihm über die Ebene, und er wird nur wenigen Menschen begegnen. Soria ist die verlassenste Provinz Spaniens, die Leute ziehen von hier fort, hier ist nichts zu verdienen.
    Die Festung in Alt-Kastilien
    Ich fliehe vor der Hitze ins Kloster von Veruela. Es ist, als werfe man die Tür der Ebene hinter sich zu und trete in eine andere, kühlere Welt ein. Eichen und Zypressen, leises Wassergluckern, Blättergeraschel, Schatten. Es ist niemand zu sehen, keine Autos anderer Gäste, nichts. In Italien kommt es einem oft vor, als wären alle Schätze übereinandergehäuft, das Auge wird trunken vom Schauen, das große Füllhorn wird ausgeschüttet, geht nie zur Neige. In Spanien, zumal in diesen Regionen, muß man selbst etwas tun. Entfernungen müssen zurückgelegt werden, das Land muß erobert werden. Der spanische Charakter hat etwas Mönchisches, selbst ihre großen Könige haben etwas Einsiedlerisches an sich: Philipp und Karl ließen sich Klöster erbauen und lebten zeitweilig mit dem Rücken zur Welt, die sie regieren sollten. Wer viel durch Spanien gereist ist, ist daran gewöhnt und hofft darauf: mitten im Nichts eine Enklave, eine Oase, ein von Mauern umschlossener, festungsartiger, nach innen gekehrter Ort , an dem die Stille und die Abwesenheit anderer den Seelen schwer zusetzen. Hier ist es nicht anders. Ich bin unter allen Feldern des Wappens von Ferdinand von Aragonien und den einfacheren, mit einer Mitra gekrönten Wappen des Erzbischofs von Zaragoza und des Klosterabts entlanggegangen, stehe auf dem Innenhof und habe geklingelt, aber es rührt sich nichts. Ich gehe zu den Wappen und starre auf sie, doch sie bedeuten nichts mehr. Ich sehe etwas, bin aber blind für das, was ich sehe. Einst müssen Menschen dies »gelesen« haben wie ich ein Verkehrsschild. Ich weiß, daß diese Felder seine Abstammungslinie anzeigen, daß sie von Paarungen in entlegenen spanischen Burgen berichten, die Ritter und adlige Fräulein hervorbrachten, die alle, nach langer Reise auf den Flüssen ihres Blutes, gemeinsam in diesem Ferdinand zusammenflossen. So ähnlich, Symbole der Macht und der Herkunft, die verzweifelt versuchen, mir eine Geschichte in einerSprache zu erzählen, die ich nicht mehr verstehen kann. Über dem Wappen hängt, von zwei winzigen Engeln gehalten, ohne daß dieser Verstoß gegen die Schwerkraft sie allzuviel Mühe zu kosten scheint, ein Hut mit zwanzig Quasten. Kardinal oder Erzbischof? Ich weiß es nicht mehr. Ich stehe da und schaue und höre dasselbe, was die ersten Bewohner im zwölften Jahrhundert gehört haben. Ich bin – an soviel mehr Lärm gewöhnt, als sie je gehört haben – geneigt, dieses Fehlen von Geräuschen Nichts zu nennen, aber als ich länger lausche, unterscheide ich Nuancen des Nichts, all diese fast nicht existierenden Geräusche, das ferne Summen der Insekten, den trägen Flügelschlag eines Taubenpaars, den Wind in den Pappeln – die zusammen die Stille ausmachen.
    Ich klingle noch einmal und höre Schritte ohne Eile. Leder auf Stein. Ein Mönch öffnet. Er reißt eine Eintrittskarte aus einem Buch, das noch voll ist, und deutet mit vager Handbewegung ins Kloster: Dann sieh dich mal um. Er geht nicht mit, er sagt nichts, auf gut Glück wandere ich umher. An der spätromanischen Fassade der Klosterkirche hängen, als reine Zier, ein paar dünne Säulchen ohne Sockel. Sie berühren nichts, sie stützen nichts und zeigen frei nach unten, auf den halbrunden Bogen, durch den ich jetzt eintrete.
    Die Kühle des Gartens im Vergleich zur Hitze der Landschaft, die Kühle der Kirche im Vergleich zur Kühle des Gartens: Jetzt ist es schon fast Kälte, in der ich mich bewege. Die Außenmauern einer Kirche stellen sich der Außenluft, der normalen Luft, in den Weg. Plötzlich steht da eine willkürliche Steinform, die die noch eindringende Luft qualitativ verändert. Es ist nicht mehr die Luft zwischen Pappeln und Klee, Luft, die vom Wind hin und her gefächelt wird, es ist
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