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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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klein geworden unter den hohen Kränen. Die schwelgende Bewegung des Wassers hat aufgehört, es gehört nicht mehr zum Meer, und auch an Bord ist die Gemeinsamkeit beendet, die Passagiere gehören nicht mehr zusammen. Jeder ist in Gedanken bei seinem eigenen Ziel, bereits in Erwartung des nächsten. In den Kabinen ziehen die Stewards die Betten ab und zählen die verschwundenen Handtücher. Auf dem Kai ist es schon warm.
    Die Zeit schmelzen zu lassen kommt mir typisch spanisch vor, und nirgends ist die Zeit so schön geschmolzen wie auf der sich auflösenden, zu einem schneckenartigen Klumpen gewordenen Uhr von Dalí. Während ich auf mein Auto warte, lese ich im Mundo Diario den Brief des kranken Malers an das Volk, in dem er erklärt, wie krank er nicht ist. Die Unterschrift unter dem maschinegeschriebenen Brief (Kopf: Teatro Museo Dalí) ist zittrig, aber das Bild ist noch immer erkennbar – die Buchstaben des magischen Namens, die in der Zeichnung eines donquijotesken Reiters aufgehen, die Lanze beherzt vorgestreckt, hinein in das leere Briefpapier. Während ich auf diese Unterschrift schaue, denke ich, wie spanisch das Phänomen Dalí ist, wie mühelos das Bild, das er von sich selbst geschaffen hat, neben der Pfannkuchen backenden Teresa von Ávila, den aufgehängten Nonnen des Bürgerkriegs, der Garrotte und dem langsam im Gefängnis seines eigenen Palasts dahinfaulenden Philipp II . Eingang in das nationale Panoptikum finden wird. Mit geschlossenen Augen sehe ich den Maler, die beiden scharf gezwirbelten Antennen seines Schnurrbarts in den Raum gerichtet, um schwache, geheimnisvolle Botschaften aufzufangen, die für alle anderen Schnurrbärte nicht zu verstehen sind. »Verlautbarung des Ehepaars Don Salvadorund Doña Gala Dalí« steht in majestätischer Einfachheit über dem Brief, der weiter keinen Anfang hat. »Es konveniert uns, jedermann zur Kenntnis zu bringen ...« – »Hofft der unterzeichnende Künstler ...« – und weitere solcher prachtvollen Wendungen verleihen dem Schreiben das Gepräge eines ärztlichen Bulletins, wie es an Palasttoren herausgegeben wird, wenn jeder weiß, daß der König im Sterben liegt. Bitterer Ernst oder makabrer Humor, schwer zu entscheiden, aber jedenfalls läßt »der unterzeichnende Künstler« das Volk wissen, er habe bereits wieder die ersten Pinselstriche getan. Wenn das Bild fertig ist, bekommt seine Frau es, und die gibt es an das Museum weiter. Im Innern der Zeitung ist die Unterschrift noch einmal zu sehen, stark vergrößert. Die Redaktion hat sie Professor Lester vorgelegt. Wer das ist, wird nicht erläutert, aber wenn jemand keinen spanischen Nachnamen hat und nicht einmal einen Vornamen, dann will das hierzulande sagen, daß man der betreffenden Person nicht zu trauen braucht. Dem Professor zufolge muß Dalí zwischen dem vierten und dem neunzehnten November schwer aufpassen, denn dann steigen der Planet Pluto und der Stern Lilith – der schwarze Mond – gemeinsam auf und stehen in Quadratur zum Krebs, und dann ist die Hölle los über Cadaqués, wo der Maler wohnt. Er kann dem Unheil durch eine Reise nach Griechenland entrinnen, wo es dann für Stiere weniger gefährlich ist.
    Meine Fahrt geht nach Soria, nach Altkastilien, Castilla la Vieja. Von Barcelona führt eine leere Autobahn nach Zaragoza. Ich sehe die Stadt in der Ferne daliegen wie eine Vision, in der Hitze flimmernd. Jetzt beginnt das wahre Spanien, die Meseta, das Tafelgebirge, die Hochebene von Kastilien, leer, trocken, so groß wie ein Meer. Hier kann sich nicht viel verändert haben seit dem dreizehnten Jahrhundert, als die großen Schafzüchter sich zusammenschlossen, um den Durchzug ihrer Herden von den vertrockneten Prärien der Estremadura zu den grünen Hängen der nördlichen Gebirgsketten zu sichern. Soria pura, cabeza de Extremadura steht im Wappen von Soria. Dies war die Nahtstelle, an der die Königreiche von Kastilien und Aragonien an den islamischen Süden grenzten. Überall in diesem Gebiet, das der Duero wie eine Wasserverteidigungslinie durchzieht, stehen die Ruinen mächtiger Festungen, die mit ihren plumpen Formen die Landschaft beherrschen. Berlanga, Gormaz, Peñaranda, Peñafiel, in der Farbe der trockenen Erde liegen sie dort noch immer breit und drohend auf den niedrigen Hügeln, die die Landschaft wellenartig durchziehen. Ausgeschlachtete leere Hülsen, mächtige Knochengerüste ausgestorbener Tiere, so herrschen sie über das kahle Land und die niedrigen
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