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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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voll der wunderbarsten Details. Florale Kapitelle – die Kopfstücke von Säulen mit Pflanzenmotiven, die auf ganz raffinierte Weise so unregelmäßig gestaltet sind, daß es aussieht, als bewegte sich der Stein, arabische Einflüsse, die krumme Tour (durch die Darstellung der Laster), Nacktheit zu zeigen, geflügelte Löwen mit Vogelköpfen, die mich an Persepolis erinnerten, all die Geschichten und Ermahnungen und Verzierungen, die vor tausend Jahren von Meisterhand in Stein gehauen wurden und sich hier im trockenen, harten Klima Sorias erhalten haben, all dies ist eine Pilgerfahrt wert. Man wünscht sich oft, es gäbe ein ganz großes Vergrößerungsglas, das man nach oben richten kann, ein Kapitellglas analog zum Opernglas. Die Darstellungen sind häufig Miniaturen aus Stein, und wenn man auch lesen will, was da (in Bildern) geschrieben steht, müßte man ein Handbuch biblischer und christlicher Ikonologie oder Symbolik bei sich haben. Nicht daß es wirklich notwendig wäre, aber ich ärgere mich richtiggehend, wenn ich nicht genau verstehe, was die Darstellung mir erzählen will. Was damals Gemeingut war, ist heute Spezialistenwissen.
    Was, frage ich mich, ist daran eigentlich so reizvoll? Ich stehe vor der Fassade von Santo Domingo. Nicht berühmt, folglich keineTouristen, ein stiller Winkel in einer Stadt. Ist es die Schlichtheit, falls es Schlichtheit ist? Die Frömmigkeit? Die durch nichts ins Wanken zu bringende Totalität des Weltbilds? Die Vorstellung, daß es von Menschen und für Menschen geschaffen wurde, für die es keine »Kunst« war, sondern Wirklichkeit? Daß in Stein eine Geschichte erzählt wurde, die alle bereits kannten, die aber alle immer wieder sehen wollten – genauso wie die Griechen (und die Japaner) sich ihre Tragödien ansahen und noch immer ansehen?
    Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß von dieser niedrigen, fast plumpen Fassade, an der das Tympanon von der Größe her gesehen eigentlich nur einen kleinen Teil ausmacht, eine große Kraft und Rührung ausgehen. Die Vorstellung, daß dies einmal neu war. Neu! Eben fertiggestellt, herausgehauen aus diesen fast goldfarbenen, harten Steinblöcken! Wie stolz die Erschaffer waren, wie man aus der ganzen Provinz herbeiströmte, um es zu betrachten!
    Die Figuren im Tympanon sind so klein, daß man sich dicht davorstellen muß, um sie richtig zu sehen. Und selbst dann muß man den Kopf weit nach hinten in den Nacken legen, denn die vier Bögen, in denen sie dicht beisammengedrängt sind, befinden sich über einem, nicht vor einem. Diese vier konzentrischen Comics in den Bögen, jedes aus einer Fülle von Bildnissen bestehend, besitzen, hat man sie endlich richtig im Visier, nicht dieses Starre, Hieratische, das wir der Einfachheit halber als primitiv bezeichnen. Sie sind vielmehr üppig und zugleich trollhaft, mit ihren großen, heiligen Zwergenköpfen über reich gefältelten Gewändern. Und alles geschieht wieder, wie es im Großen Buch berichtet wird und in tausend Darstellungen bewahrt und zweifellos mit tausend anderen Darstellungen verschwunden ist: Das Haupt Johannes’ des Täufers wird abgeschlagen, Gott erschafft den Adam, die Jungfrau Maria erhält Besuch vom Engel, die Anbetung der Heiligen Drei Könige, dieselben Geschichten wie immer, nur dieses Mal nicht mit echten Menschen, nicht in Farbe, nicht in Silber, nicht von Rembrandt, nicht von Manzúoder Rouault, sondern von verschwundenen, namenlosen Händen aus dem harten Stein einer dürren spanischen Provinz gehauen, wo sie in aller Ruhe das Ende der Welt erwarten.
    1981
    1 Während des Achtzigjährigen Krieges (1568-1648) mit großer Macht ausgestatteter spanischer Statthalter in den Niederlanden.

E INE W ELT VON T OD UND G ESCHICHTE
    Zaragoza. Zusammen mit zwei Nonnen und einer alten Dame bin ich der einzige Besucher im Museum für Schöne Künste, das auch eine Archäologie-Abteilung besitzt. Die Nonnen überholen mich mit einer Geschwindigkeit von einem Jahrhundert pro Minute, und dann bin ich wirklich allein in der spanischen Vorgeschichte. Pfeilspitzen aus Stein, Töpfe aus Ton, geöffnete Gräber, in denen ein überraschter Vorfahr auf der Seite liegt, ein Skelett ohne Namen, jemand, der einst diesem oder jenem Stamm angehörte und dreitausend Jahre später in seiner Ruhe von jemandem gestört wurde, nach dem nie gegraben werden wird, da wir alles fein säuberlich etikettiert hinterlassen werden.
    Was mir an der Geschichte vor der Geschichte gefällt, ist, daß ihr das
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