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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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der patria chica. Jedes Dorf, jede Stadt ist der Mittelpunkt intensiven sozialen und politischen Lebens. Wie in klassischen Zeiten gilt die Loyalität eines Spaniers zuallererst seinem Geburtsort, seiner Familie oder der sozialen Gruppe, der er angehört. Erst danach kommt das Land und die Regierung.«
    Die Biographie des Bemerkenswerten von Soria ist auf diesem grauen Armeleutepapier gedruckt, das den darauf abgebildeten Fotos eine geheimnisvolle Unsichtbarkeit verleiht. Auf Seite 268 ist das schönste zu finden: die Mumie des Erzbischofs Don Rodrigo Ximénez de Rada aus dem vierzehnten Jahrhundert, nachdem sie zum erstenmal in siebenhundert Jahren neu eingekleidet worden war. Das Foto zeigt achtzehn verschiedene Grauschattierungen, der vertrocknete Totenkopf trägt eine halb auseinandergeborstene Mitra und schlummert in einem Durcheinander kirchlicher Textilien selig vor sich hin. Der alte Franco und der neue König, grau, Lokalgrößen, grau, Schönheitsköniginnen für den Tag der Provinz, alles überzogen mit Grau, das – entgegen der Intention der Abbildung, nämlich etwas zu zeigen – alles verdunkelt. Reime, Herkunft von Ortsnamen, der – ausgestorbene oder noch existierende – Lokaladel, Seiten voller Ritter und Marquis, alles steht drin. 1453 wurde Don Alvaro de Luna, Großmeister des Militärordens von Santiago und Premierminister König Johanns II . von Kastilien, der Titel eines Grafen de SanEsteban de Gormaz verliehen. Der Titel existiert noch immer – Spanier werfen nicht so schnell etwas weg, weder Leichen noch Titel – und wird jetzt von Señora Doña María del Rosario Cayetana Fitz-James Stuart y Silva, Falcó y Gurtubay, Herzogin von Alva de Tormesa, geführt. Aber auch der größte Pilz und der größte Kohlkopf sind für die Ewigkeit festgehalten, alle Entfernungen gemessen, die Wappen nachgezeichnet, die Urkunden kopiert, die Etymologien von Höhen und Tiefen aufgeschrieben. Es gibt in Soria – dies ist ausschließlich für Liebhaber notiert – einen Cuesta, und zwar den Cuesta. Ferner sieben Berge ( montes ), vier pinillas , drei cubos, fünf peñas , drei pozos , vier cuevas – Gipfel, Brunnen, Hänge, Höhlen und andere topographische Eigentümlichkeiten in diesem Grundbuch der Ewigkeit.
    Kloster in Soria (12. Jahrhundert)
    Genie de lieu sagen die Franzosen, wenn ein Ort etwas ganz Eigenes und Besonderes atmet. Die Ritter des heiligen Johannes vom Spital zu Jerusalem gibt es nicht mehr, aber Reste des Klosters, das sie im Jahr 1100 in Soria erbauten, stehen noch, die Skizze, die Idee dessen, was einst der Kreuzgang um den Klostergarten war. Es ist früh am Morgen, Tau liegt über dem Fluß, der hier noch schmal ist und schnell und dunkel an den mit Schilf und hohem Grün bewachsenen Ufern entlangfließt. Die Bogen, die den Kreuzgang bilden, sind ineinander verschlungen und scheinen wie eine Arabeskenfolge in der Luft zu hängen. Es ist wirklich ein Garten, Rosen wuchern an den Mauern der kleinen Kirche, Gladiolen und mannshohe Margeriten wiegen sich unter den Pappeln, doch das Geviert zwischen den vier leeren Bogenreihen ist leer gelassen. Das macht es sehr rätselhaft: Es ist an allen Seiten offen, Wind und Luft und Stimmen wehen durch die Öffnungen hindurch, es steht ganz für sich, im Freien, und doch bin ich drinnen , in einem maurischen Garten. Die Form der Fragmente schreibt vor, wie das Ganze einst ausgesehen hat, noch immer umgibt mich das verschwundene Kloster. Ich betrete die kleine Kirche. Hier liegen ein paar Grabsteine mit hebräischen Buchstaben, der Bogen über der Apsis ist arabisch, zwei seltsame, baldachinartige Gebilde, das eine mit rundem, das andere mit spitzemDach, stehen neben beziehungsweise vor der Stelle, wo sich früher der Hauptaltar befunden haben muß – die Darstellungen auf den Kapitellen über den Doppelsäulen, die die Baldachine tragen, sind christlich, und so verschmelzen in dem kleinen, totenstillen Raum diese drei Welten zu einer Symbiose, die es so nirgends mehr gibt.
    Weshalb sind manche Orte berühmt und andere nicht? Weshalb spricht jeder von Autun und Poitiers, und weshalb hört man nie etwas von Soria, obwohl dort eines der schönsten und ergreifendsten romanischen Portale der gesamten mittelalterlichen Christenheit zu sehen ist? Jeder wirkliche Liebhaber romanischer Kunst muß die Fassade von Santo Domingo und den Kreuzgang von San Pedro gesehen haben. Es sind, zusammen mit San Juan de Rabanera und San Gil, jedes für sich Schatzkammern
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