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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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lunaren Staubfeld sein Ballett aufführte. Unvergeßliche Bilder, aber nun spielte Barockmusik dazu, als hätte man hinter diesen beiden weißen Tänzern mit ihren unirdischen Bewegungen ein Orchester des Herzogs von Weimar plaziert. Die Raumfahrer tanzten, sie waren durchsichtig, ihre Stimmen durch den Raum verändert, sie spiegelten sich im glänzenden Visier des anderen, gehörten dort nicht hin und liefen trotzdem mit ihren übergroßen Eisbärfüßen auf den Körnern, Pusteln und Krankheiten des Monds herum, der in diesemAugenblick aufhörte, eine Göttin zu sein. Ach, könnte ich nur ein einziges Mal die Erde als Vollmond sehen, während ich auf einer Terrasse am leeren Meer der Stille sitze, ein Glas mit plutonischem Champagner vor mir auf meinem Platintischchen, und von einer unmöglichen Reise nach Spanien träume.
    Wer sehen will, wie eine spanische Stadt vor zwanzig Jahren ausschaute, muß nach Soria fahren. Tourismus und Wohlstand haben hier noch nicht zugeschlagen, es gab keinen Grund, Fassaden einzureißen, um durch unsinnige Hochbauten den Maßstab der Stadt zu verzerren, um Holz durch Aluminium zu ersetzen, Türen durch Glasscheiben, in denen einem die eigene Gestalt wie auf einem zu dunkel geratenen Foto entgegengrinst. Marmortischchen mit verschnörkelten gußeisernen Beinen, zum hundertsten Mal silbergrau gestrichen, Lampenlicht, vom Tabakrauch bräunlich gebeizt, anstatt des seelenzersetzenden Neonlichts, kleine Läden, in denen man im Dunkel watet, Ladenbesitzer ohne Rechenmaschine, Holzregale mit geheimnisvollen Eßwaren, Gassen voller Überraschungen, düstere Bars, in denen schwarzgekleidete Männer mit schwarzen Hüten schweigend irgend etwas Dunkles trinken. Die Provinz ist arm, die Hauptstadt ist arm, und Armut glänzt nicht, Armut ist still, Armut wirft das Alte nicht weg für den dünnen Firnis prunkenden Mists, der wie ein verunglücktes Facelifting so vieles, was alt und authentisch war, zum Verschwinden gebracht hat.
    Es ist ein Uhr, die heißeste Zeit. Die gesamte Bevölkerung sitzt im Schatten der großen Bäume im Park. In dessen Mitte steht eine jahrhundertalte Ulme, um die man einen gußeisernen Musikpavillon gebaut hat. Männer lesen den Heraldo de Aragón oder die Voz de Soria , ich schlendere entlang den gestutzten Zypressen, alle sitzen unter den Ulmen und Linden wie vor hundert Jahren, keiner hat sich bewegt. Ich höre meine Schritte auf dem Kies, das unnachahmliche Geräusch einer spanischen Menschenmenge, das Gemurmel alter Leute und Verliebter, die Celli der Erwachsenen, die höher gestimmten Instrumente der Kinder, das Plätschern des Brunnens, das in heißen, trockenen Ländern immer etwas anderesbedeutet als in den grauen Ländern, in denen das Wasser von selbst vom Himmel fällt. Um fünf Uhr, als der Nachmittag seiner selbst überdrüssig geworden ist, öffnen die kleinen und großen Geschäfte wieder. Ultramarinos – was wir früher Kolonialwaren nannten, congrio seco , Seeaal, der erst getrocknet und dann zu einer Art riesigem Teppichklopfer auseinandergeklappt wird und so als bräunliches Eßlabyrinth in der Türöffnung hängt, Würste, so schwarz wie Steinkohle, Essen aus einer anderen Zeit, Essen für andere Menschen. Bei La Delicia, der Konditorei der Witwe von Epifanio Lis, liegen die gefärbten Schaumpyramiden meiner Urgroßmutter, in der Bar »Zur Sonne« trinkt der eine Herr einen schwarzen Kaffee mit vier Eiswürfeln und der andere Herr einen dreifachen Kognak. Draußen sind es noch immer vierzig Grad. In einer dieser Buchhandlungen, in denen die Verkäufer blasse Gesichter haben und in denen man außerdem auch Hefte, Bleistifte und Kassenbücher kaufen kann, stoße ich auf ein Exemplar für meine Raritätensammlung, das einen Platz zwischen dem hektographierten Eskimokochbuch, den Volkserzählungen aus Kansas und einer auf Packpapier gedruckten Abhandlung über das inzwischen verstorbene Parteiensystem Boliviens erhalten wird. Es heißt zu Recht Biografía curiosa de Soria , und der Herausgeber, Miguel Moreno, muß an der gleichen Krankheit leiden wie ich, denn er hat nichts unerwähnt gelassen. Nichts ist für einen Spanier so wichtig wie die eigene Stadt, die eigene Gegend. Wer je etwas von Spanien begreifen will, muß das Buch von Gerald Brenan, Die Geschichte Spaniens. Über die sozialen und politischen Hintergründe des Spanischen Bürgerkrieges lesen, in dem die Bedeutung dieser Heimatgefühle so deutlich beschrieben wird: »Spanien ist das Land
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