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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige
Autoren: Nerea Riesco
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dass sie keine Gefahr mehr für sich und andere darstellte. Aber die Leute betrachteten sie mit Argwohn, auch wegen der Dinge, die Julias Mutter bei gesellschaftlichen Anlässen erzählte. Sie behauptete, ihre schwarze Dienerin habe unter dem Bett eine mit Nadeln gespickte Puppe versteckt, mit der sie Leuten, die sie nicht mochte, Bauchweh anhexen könne.
    Mamita Lula war eine gute Beobachterin. Seit über einer Woche hatte sie bemerkt, dass sich die Hunde sonderbar verhielten und nachts den Mond anheulten. Die Vögel, die hoch droben in den Kirchtürmen nisteten, hatten das Weite gesucht und ihre Jungen zurückgelassen, die mit weitaufgerissenen Schnäbeln um Nahrung bettelten. Die Pferde rollten mit den Augen und traten aus, wenn man ihnen die Trense anlegen wollte. Sogar Juan, der alte Bettler, hatte gestern den Verstand verloren. Er kniete mitten auf der Calle Génova, flehte angstvoll den Himmel an und zupfte die vorübergehenden Frauen an den Röcken, während er verkündete, dass Tausende von Menschen den Tod finden würden. Er hörte nicht eher auf, bis die Stadtbüttel kamen. Sie verpassten ihm zwei Ohrfeigen, und als er nicht zu beruhigen war, warfen sie ihn schließlich in den Kerker von Triana, bis der Anfall vorüber war.
    »Heute geht die Welt unter«, wiederholte Mamita Lula hartnäckig, als sie mit ihrer Herrin zur Kathedrale ging, um an der Allerheiligenmesse teilzunehmen. »Ich weiß es, weil sich die Tiere seltsam verhalten. Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen wie verrückt …«
    »Was du nicht sagst!«, entgegnete Julia und fasste sich theatralisch mit der linken Hand an die Wange. »Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen? Wie außergewöhnlich! Da ist Vorsicht geboten …«
    »Die Stare sind verschwunden. Seit drei Tagen ist keiner mehr zu sehen. Und …«
    »Herrgott, genug jetzt! Diese irren Phantasien machen mich noch wahnsinnig. Wenn du weiter solchen Blödsinn redest, stecke ich dich ins Hospital San Cosme y San Damián – angeblich kümmert man sich dort um Dienstboten wie dich, die den Verstand verloren haben.«
    Mamita Lula beschloss, sich auf die Zunge zu beißen, aber die Unruhe brodelte in ihr. Schweigend ging sie weiter, und während sie die Kirchentreppe hinaufstieg, betrachtete sie aus dem Augenwinkel ihre verärgerte Herrin. Vor dem Eingangsportal angekommen, ging Doña Julia voran, um einen Türflügel aufzustoßen. Mamita Lula wartete, während sie mit verschränkten Händen, gerunzelter Stirn und vorgeschobener Unterlippe ihren Weidenkorb umklammerte.
    »Ja, ja … nenn mich verrückt«, murmelte sie vor sich hin, als sie über die Schwelle trat, »aber heute geht die Welt unter.«
    Mamita Lula hasste es, nicht das letzte Wort zu haben, wenn sie doch wusste, dass sie recht hatte.
    ***
    UNTER DEN PRÜFENDEN BLICKEN der Statuen der Heiligen Petrus und Paulus betraten sie die Kathedrale durch das Portal der Gnade. Petrus stand mit düsterer Miene und wirrem Haar zur Linken, die Himmelsschlüssel in der Hand. Direkt daneben befand sich das Gitterfensterchen, durch das man den Pfarrer zur letzten Ölung rief, wenn ein Gläubiger zu einem ungelegenen Zeitpunkt beschlossen hatte, diese Welt zu verlassen. Paulus hielt ein Schwert in seiner Rechten, die Linke hatte er wie ein verwegener Fechter hinter seinem Rücken verborgen. Aber das Auffälligste an ihm war, dass sich diese Hand, die in den Falten seines Gewandes verschwand, auf wundersame Weise zu strecken schien, um unter der Figur wieder aufzutauchen und den Sockel zu tragen. Die beiden Apostel sowie der Erzengel Gabriel, Mariä Verkündigung und das darüberliegende Hochrelief mit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel – im klaren Widerspruch zu der weitverbreiteten Tradition, die Stufen der Kathedrale als städtische Warenbörse zu nutzen – waren der christliche Rahmen, der dieses Portal, das das älteste der Kirche war, zusammenhielt. Mit dem Überschreiten der Schwelle betrat man eine fremde Welt, einen Patio mit Orangenbäumen, ehemals der Vorhof der Moschee, wo die Gläubigen an einem Becken, das einmal zu einer antiken römischen Thermenanlage gehört hatte und das immer noch in der Mitte des Patios stand, ihre Waschungen vorgenommen hatten. Im Orangenhof von Sevilla liefen die Wege der Zivilisationen des Mare Nostrum zusammen.
    Die beiden Frauen überquerten den Hof und wichen den heruntergefallenen Orangen aus, bis sie die Puerta del Lagarto erreichten, die Echsenpforte, wo Mamita Lula
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