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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige
Autoren: Nerea Riesco
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unweigerlich nach oben blickte.
    »Echse, Echse …«, sagte sie, während sie mit Zeigefinger und kleinem Finger der rechten Hand ihren Kopf berührte.
    Die Ärmste war furchtbar abergläubisch. Sie fand es ganz und gar fehl am Platz, dass seit ewigen Zeiten ein ausgestopftes Krokodil von der Decke der Kathedrale hing, das der Sultan von Ägypten König Alfons X. zum Geschenk gemacht hatte, als er um die Hand von dessen Tochter Berenguela anhielt. Der weise König lehnte den Heiratsantrag ab, behielt jedoch das Krokodil, das durch den Duft der Orangenblüten und die sommerliche Hitze nach wenigen Wochen träge und faul wurde. Es lernte, seinen Wächtern aus der Hand zu fressen, und döste unter einem schattigen Baum in der friedlichen Abendstille des königlichen Alcázars vor sich hin. Einige Chroniken versicherten gar, es habe wie ein Schoßhündchen mit seinem gewaltigen Reptilienschwanz gewedelt, wenn es den König herannahen sah. Schließlich hatte man es so liebgewonnen, dass man ihm nach seinem Tod die Innereien entfernte, es mit Stroh ausstopfte und als Glücksbringer in der Kathedrale aufhängte.
    Durch die Puerta del Lagarto betraten sie die bläuliche Dunkelheit der Kirche, die nur schwach von dem trüben Licht erhellt wurde, das durch die Fenster hineinfiel. Sie gingen über den schwarz-weißen Marmorfußboden, vorbei am Portal der Giralda, der Puerta de los Palos, der Petruskapelle und der königlichen Kapelle. Direkt hinter der Capilla Mayor befand sich die Grabkapelle der Familie López de Haro. Doña Julia löste sich von Mamita Lulas Arm, drückte ihr den Strauß rosafarbener Begonien in die Hand, den sie zu Hause im Patio geschnitten hatten, und nahm den Schlüssel aus der Rocktasche, um das Gitter zu öffnen.
    Bevor sie aufschloss, fiel ihr Blick auf die glänzenden, gläsernen Augen des Evangelisten Johannes, Jesu Lieblingsjünger, der mit entrücktem Gesicht auf dem Altar thronte. Ihr verstorbener Gatte hatte ihn sehr verehrt, nicht nur, weil er als Verfasser des vierten Evangeliums der Schutzpatron der Drucker war. Er hatte ihn auch bewundert, weil er es mit heldenhaftem Gleichmut ertragen hatte, als ihn der römische Kaiser Domitian mit einem Krug kochenden Öls übergoss. In den Augen Señor de Haros war dies der Beweis dafür, dass die Drucker selbstlose Märtyrer waren, die seit den Anfängen der Christenheit verfolgt wurden, weil sie unbequeme Wahrheiten schriftlich festhielten. Aber trotz der guten Referenzen des Heiligen fühlte sich Doña Julia beim Anblick dieser in roten Samt gekleideten Steinfigur mit dem langen Echthaar, dem Schmuck aus farbigem Glas und den schamlos roten, mit einer dicken Lackschicht überzogenen Lippen jedes Mal an die Frauen mit dem losen Lebenswandel erinnert, die in den Bordellen am Hafen lebten.
    Sie wandte den Blick ab, um sich wieder auf das Schloss zu konzentrieren, und drehte den Schlüssel um. Just in dem Moment, als das Gitter nachgab, begann der Fußboden der Kathedrale zu schwanken wie ein Floß auf einem See aus Öl. Julia wurde schwindlig, und sie klammerte sich an die Gitterstäbe der Tür.
    »Gott erbarme dich unser und vergib uns unsere Sünden! Amen!« Mamita Lula bekreuzigte sich mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit.
    Die Erschütterung dauerte nur einige Sekunden, aber die darauffolgende Stille hielt eine ganze Weile an. Die Besucher der Kathedrale sahen sich fragend an, in der Hoffnung, jemand hätte eine logische Erklärung für das, was soeben vorgefallen war. Doch niemand sagte ein Wort. Als das Schwindelgefühl nachließ, gingen die Gläubigen wieder ihren Beschäftigungen nach, zweifelnd, ob sich der Boden wirklich bewegt hatte.
    Doña Julia stieß das Gitter der Kapelle auf, und sie traten ein. Sie nahmen einige Lappen und eine Flasche mit Seifenlauge aus dem Korb, den Mamita Lula trug, und die beiden begannen mit demselben Eifer, mit dem sie zu Hause den Staub von der Anrichte wischten, die Steinplatte zu schrubben, die das Grab des verstorbenen Señor de Haros bedeckte. Als sie sauber war, entfernte Julia die verwelkten Blumen aus den Vasen, die vor dem Bildnis des heiligen Johannes standen, und ersetzte sie durch die, die Mamita Lula ihr reichte. Sie ordnete sie, und als sie fand, dass sie ansehnlich genug aussahen, seufzte sie zufrieden auf. Dann drehte sie sich um und betrachtete die Inschrift auf dem Stein. Sie wollte ihre Gedanken mit frommen Bildern füllen, mit etwas, das mit dem Verstorbenen und seinen irdischen Tugenden
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