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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige
Autoren: Nerea Riesco
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»Ich suche Arbeit.«
    »Das hier ist eine Druckerei«, sagte sie. »Kennst du dich in der Druckkunst aus?«
    »Ich kann es lernen.«
    Der Setzer, der schon immer für Señor de Haro gearbeitet hatte, wurde langsam alt und begann, das Augenlicht zu verlieren. Er verwechselte das »l« mit dem »f« und dieses mit dem »j«, außerdem zitterten seine Hände, wenn er den Setzkasten benutzte. Während der Arbeit musste er sitzen, weil seine Knie nachgaben. Julia beobachtete ihn schon seit geraumer Zeit, überzeugt, dass sie früher oder später jemanden suchen musste, der seine Aufgaben übernahm. Aber um Setzer zu sein, brauchte man einige Übung und eine lange Ausbildung. Der Setzer war die Seele einer Druckerei. Er bestimmte den Stil der Werkstatt, er musste gute technische Kenntnisse besitzen und die Rechtschreibung perfekt beherrschen. Setzer waren Kopisten. Sie hatten die gleiche Aufgabe und die gleiche Verantwortung wie die Schreiber des Mittelalters. Zuerst mussten sie einen Ausschnitt des Originaltextes lesen, ihn auswendig lernen und dann niederschreiben. Der einzige Unterschied war, dass die einen dabei eine Feder benutzten und die anderen Lettern aus Metall.
    »Kannst du lesen und schreiben?«, wollte Julia von León wissen und sah ihn herablassend an.
    »In vier Sprachen«, antwortete er ohne Überheblichkeit.
    »Es muss Kastilisch sein, und zwar fehlerfrei.«
    »Kein Problem.«
    Julia nahm León als Setzerlehrling auf, ohne Referenzen von ihm zu verlangen, und ließ ihn unter dem Vorwand, dass rund um die Uhr ein Mann im Haus anwesend sein sollte, im Keller wohnen. Als Cristóbal Zapata zurückkehrte und von der Entscheidung erfuhr, die Doña Julia in seiner Abwesenheit getroffen hatte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Er betonte, dass es seit Señor de Haros Tod in seiner Verantwortung als Druckermeister liege, darüber zu entscheiden, wer angestellt wurde und wer nicht, sowie das Geschäft und die Herrin des Hauses wie ein Schießhund zu bewachen. Zudem wies er darauf hin, dass es dem Ansehen einer Frau – erst recht einer Witwe – nicht zugute kam, einen jungen Mann zweifelhafter Herkunft und mit dem Körper eines Adonis unter ihrem Dach aufzunehmen.
    »Ich bin die Chefin dieser Druckerei«, warf sie ihm entgegen, in den Augen eine Leidenschaft, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, »und ich kann tun und lassen, wonach mir der Sinn steht.«
    Sie sprach nicht mehr mit Cristóbal über die Sache mit León und vergaß bald die Warnungen des Angestellten das Gerede der Nachbarn betreffend, denn die Anwesenheit des neuen Gehilfen brachte Licht in ihren Alltag.
    Julia hatte einen Hang zum Schönen. Nicht nur dem, was man mit den Augen wahrnehmen konnte; sie genoss auch mit allen anderen Sinnen. Sie liebte den Geruch der Druckerei, den zarten Duft des Papiers, vermischt mit dem von frischer Tinte. Sie schwelgte in Vorfreude, wenn sie Mamita Lula in die Küche gehen sah, um die nachmittägliche Schokolade zuzubereiten, und konnte es kaum erwarten, weil sie ihr süßliches Aroma beinahe schon auf der Zunge spüren konnte. Ihr lief das Wasser im Munde zusammen, wenn sie an den Moment dachte, da sie den Arbeitern das heiße Getränk kredenzen würde, den ersehnten Moment, da sie Leóns Finger mit den ihren streifen konnte, wenn sie ihm die Tasse reichte. Sie mochte es, ihn aus der Ferne zu beobachten, wie er mit katzengleicher Geschmeidigkeit umherging, sich mit dem Handrücken eine störrische Haarsträhne aus der Stirn strich, weil er Druckerschwärze an den Fingern hatte, wie er in sich hineinlächelte, wenn er den Scherzen der anderen Angestellten lauschte. Julia gefiel die Stimme des jungen Mannes, weil man sie nicht nur mit dem Gehör wahrnahm. Leóns Stimme hallte innerlich wider. Wenn er sprach, vibrierte die Luft und verursachte ein Kribbeln in ihrem Magen, wie die Orgel in der Kathedrale, wenn sie im Bassschlüssel spielte.
    Manchmal erlaubte sie es sich, von ihm zu träumen. Sie stellte sich vor, wie er mitten in der Nacht ihre Schlafzimmertür aufriss und ernst und streng auf sie zukam, nur beleuchtet vom metallischen Licht eines riesigen Vollmonds. León zog mit einem Ruck die Laken beiseite, unter denen sie lag, und schloss sie sanft in die Arme wie ein kleines Kind. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und vergrub ihr Gesicht an dieser dunklen Brust, sog seinen rauchigen Geruch ein, während er zur Tür ging, um sie auf ein phantastisches Schiff zu bringen, das in Richtung
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