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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige
Autoren: Nerea Riesco
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bis sich die Erde wieder beruhigte, und als sie es tat, entrang sich ihr ein langes Ächzen, auf das eine betäubende Stille folgte. Eine staubige Stille, die allmählich leisem Stöhnen wich, verhaltenen Stoßgebeten, dem Weinen von Babys, dem Geschrei von Erwachsenen, dem Plärren der Betschwestern, Geräusche, die immer weiter anschwollen, bis sie schließlich zu einem ohrenbetäubenden Lärm wurden. Ein Chor verzweifelter Stimmen flehte wie aus einem Munde um Gnade, Erbarmen und Vergebung.
    Julia und Mamita Lula blieben auch noch unter dem Altar liegen, als sich die Erde längst wieder beruhigt hatte, denn sie waren nicht sicher, ob das Beben vorüber war. Sie warteten, bis sich der Staub gelegt und das Rasen ihrer Herzen beruhigt hatte, und krochen dann durch den Schutt, der den Boden bedeckte, aus ihrem Versteck heraus. Ein Trümmerteil bohrte sich in Julias Rippen. Als sie es packte, um es beiseite zu schieben, sah sie, dass es sich um einen runden Stein in Form einer riesigen Münze von über einer Spanne Durchmesser handelte. Er zeigte ein Reliefbild, das sie nicht genau erkennen konnte. Sie presste es an ihre Brust wie eine rettende Planke. Dann spürte sie, wie Mamita Lula sie mit aller Kraft weiterzerrte, und sie torkelten benommen vorwärts, mehr ihrem Gefühl folgend, auf der Suche nach einem Fluchtweg aus der dunklen Kirche.
    Fahles Licht fiel von oben herab und sickerte durch die Fensterrosetten, schüchterne Strahlen, in denen Staubpartikel tanzten. Sie bemerkten ein schwaches Licht vor ihren Augen, am Ende dieses finsteren Tunnels, durch den sie sich bewegten. Sie taumelten darauf zu und gelangten auf die Straße, indem sie sich schubsend und rempelnd an ihren Mitmenschen vorbeidrängten, die sich in unkenntliche, staubbedeckte Gespenster verwandelt hatten, benommen vor Schrecken und Todesangst.
    Keine der beiden Frauen hatte ein Wort gesagt, seit das Beben begonnen hatte. Draußen angekommen, schauten sie sich im Tageslicht an, als sähen sie sich zum ersten Mal, bis sie sich überzeugt hatten, dass sie beide unversehrt waren; dann nahm Mamita Lula ein Spitzentaschentuch aus ihrer Rocktasche, wickelte es um Zeige- und Mittelfinger, befeuchtete es mit Spucke und wischte Doña Julia damit übers Gesicht, um die Schmutzschicht zu entfernen, die ihre Wangen überzog, wie sie es vor vielen Jahren getan hatte, als diese noch ein kleines Mädchen gewesen war. Aber nun war ihre Herrin zu alt dafür und stieß sie von sich weg. Dann blickte Julia nach oben. Unter dem Schleier des diesigen Himmels konnte sie die Scheibe der Sonne erkennen, die sich einen Weg durch die Wolken zu bahnen versuchte. Die Gegenwart der Sonne hatte Julia immer ein unbeschreibliches Gefühl der Erneuerung verliehen. Sie atmete tief durch, immer noch den Stein umklammernd, den sie aus dem Schutt der Kirche gerettet hatte. Sie schloss die Augen, und ein schwaches Lächeln erschien auf ihrem staubgrauen Gesicht. Sie lebte.
    »Ich lebe!«, sagte sie bewegt.
    »Wir müssen hier weg!«, rief Mamita Lula ihr zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie, um sie aus ihrer Benommenheit zu reißen. »Der Turm stürzt ein.«
    Sie waren durch die Puerta de los Palos gekommen, und eine Gruppe von Menschen deutete auf einen Riss, der in der Giralda klaffte. Es sah aus, als hätte eine Axt von riesenhaften Ausmaßen das Mauerwerk vom Glockengeschoss bis zu den ersten Balkonen gespalten. Unterdessen hallte die unbewegte Stimme Pater Zacarías’ so kraftvoll wider wie nie zuvor. Das Kruzifix emporhaltend, lief er umher, gefolgt von einer Menge zaudernder Sevillaner, die von der ungewohnten Stärke des sechzigjährigen Geistlichen wie gebannt schienen. Durch seine Blindheit war er unempfänglich für Panik. Sicheren Schrittes ging er Richtung Plaza, während er die Menge lautstark aufforderte, ihm zu folgen. Er werde die Messe, die das furchtbare Ereignis unterbrochen hatte, wo auch immer zu Ende lesen.
    »Sie bricht in der Mitte entzwei!«, schrie jemand und deutete auf die Giralda.
    »Gehen wir nach Hause, bevor uns eine Glocke auf den Kopf fällt«, sagte Mamita Lula eindringlich zu Doña Julia.
    »Du hast dich geirrt, siehst du? Die Welt ist nicht untergegangen. Wir leben, merkst du? Du lebst!«, entgegnete diese mit einem glücklichen Lächeln.
    »Natürlich … Los, gehen wir nach Hause.«
    »Ich lebe. Ich lebe. Ich lebe«, wiederholte Julia mit entrücktem Blick, während sie sich von Mamita Lula wegführen ließ.
    ***
    DIE SCHÄDEN AN
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