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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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er gebaut. Im Analogieschluss glauben wir, wenn wir über die kosmische Ordnung nachsinnen, dass sie einem bestimmten Zweck dient, der dem Willen ihres Schöpfers gehorcht. Spinnen wir diese Analogie weiter, fangen wir an, uns über diesen Schöpfer Gedanken zu machen, über seine Absichten und dementsprechend über seine Natur.
    Diese wenigen Schritte führen den menschlichen Geist zu einem ganz bestimmten Bild. Ein theologisches Bild, in dem Gott, der Mensch und die Welt einen unauflöslichen göttlichen Nexus bilden. Ein Bild, das eine Geschichte erzählt: von einem Gott, der den Kosmos schuf oder formte, mit uns als ungewöhnlichem Ingrediens, das einige Merkmale mit dessen anderen Geschöpfen teilt und auf andere wiederum das Monopol hat (und sie daher vielleicht mit dem Schöpfer selbst teilt). Dieses Bild kann vor dem inneren Auge jedes Menschen entstehen, der beginnt, über seine Umgebung nachzudenken. Wie sich dieses bestimmte theologische Bild dann tatsächlich entwickelt, ist eine historische Frage. Denn auch ein willkürliches Bild, vererbt von der Kultur oder Gesellschaft, in der das Individuum lebt, kann mit einer rationalen Struktur und Rechtfertigung versehen werden. Der Gläubige hat seine Gründe zu glauben, dass er diesem göttlichen Nexus angehört. So wie er seine Gründe hat zu glauben, dass dieser ihm verbindliche Führung für sein politisches Leben bietet.
    Wie diese Führung aussieht und warum die Gläubigen sie für verbindlich halten, hängt letztlich davon ab, wie sie sich Gott vorstellen. Wenn sie Gott für eine passive, stille Kraft wie z. B. den Himmel halten, zieht seine Existenz vielleicht nicht unbedingt Gesetze nach sich, die es zu befolgen gilt. Wir wissen, dass da etwas Göttliches ist, und dieses Wissen hilft uns möglicherweise, unsere Umgebung zu verstehen. Doch es gibt keinen Grund, weshalb dieses Göttliche uns unsere Ziele diktieren sollte. Solch ein Gott mag Teil der Seinsstruktur sein oder auch darüber hinausgehen, aber er bestimmt nicht, wie wir leben sollen. Er ist eine Hypothese, auf die wir notfalls verzichten können. Doch wenn wir die Vorstellung ernst nehmen, dass Gott ein persönlicher Gott mit bestimmten Absichten ist und dass die kosmische Ordnung auf diese Absichten zurückgeht, dann sieht die Sache schon anders aus. Die Absichten solch eines Gottes sind keine stummen Tatsachen, sie stellen vielmehr eine aktive Willensäußerung dar. Und sind insofern verbindlich. An diesem Punkt aber kommt die Politik ins Spiel.
    Das politische Leben dreht sich stets um die Diskussion der Macht: Wer darf legitim Macht über andere ausüben? Zu welchem Zweck? Und unter welchen Bedingungen? Natürlich könnte man bei solchen Auseinandersetzungen irgendeinen Zug der menschlichen Natur anführen, und es dabei belassen. Doch wie wir gesehen haben, führt uns jegliche Reflexion über die menschliche Erfahrung am Ende immer die Leiter der Kausalkette hinauf, zurück zum Kosmos und schließlich zu Gott. Wenn wir Gott für den Schöpfer unserer kosmischen Ordnung halten, die seinen Zwecken gehorcht, dann mag die legitime Ausübung politischer Macht sehr wohl davon abhängen, wie man diese Zwecke versteht. Gottes Absichten an sich bedürfen ja keiner Rechtfertigung, da er die letzte Instanz ist. Wenn wir ihn rechtfertigen könnten, würden wir ihn nicht brauchen. Wir würden nur Argumente brauchen, die sein Handeln erklären. Vor dem Hintergrund dieser Denkweise hat Gott durch seine Schöpfung etwas offenbart, was der Mensch nie vollkommen erkennen kann. Daher wird die Offenbarung zur Quelle seiner Autorität, seiner Befehlsgewalt über die Natur und über uns.
    Nicht alle Kulturen haben sich dieser Logik unterworfen. Im alten China bspw. wurde der Kaiser selbst vergöttlicht, die Götter waren nur dazu da, die Bevölkerung angesichts seiner Macht zu trösten. Im alten Griechenland stellte man sich eine erste Ursache vor, einen »unbewegten Beweger« ohne persönliche Züge, der das göttliche Gesetz verkörperte, das die Philosophen kontemplieren konnten in der Hoffnung, die kosmische Ordnung und den Platz des Menschen darin zu begreifen. Andere griechische Denker gingen von einem Pantheon verschiedener Gottheiten mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten aus, die dem menschlichen Verständnis gleichwohl immer zugänglich waren. Diese Götter übten nicht über eine wie auch immer geartete Offenbarung politische Macht aus, weil sie den Menschen und den Kosmos geschaffen hatten –
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