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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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Wir werden uns exemplarisch auf eine Reihe europäischer Denker konzentrieren, deren Arbeit in dieser Diskussion Marksteine setzte. Einige der Protagonisten sind wohlbekannt und gründlich erforscht. Andere sind dem Vergessen anheimgefallen. Und doch spielten sie alle eine gewichtige Rolle in der Debatte um die verborgenen Stärken und Schwächen des modernen Denkens über Religion und das politische Leben. Wie Fabrizio del Dongo in Stendhals Kartause von Parma , der unbeabsichtigt in die Schlacht von Waterloo geriet, sind auch diese klugen Köpfe Teil einer gewaltigen intellektuellen Schlacht – um die Erfordernisse der Politik, die Gebote Gottes und letztendlich um die Natur des Menschen.
    Dabei fand dieses Buch seine Inspiration nicht am glorreichen Beginn dieser Schlacht, sondern an ihrem unrühmlichen Ende. Denn nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs lebte die politische Theologie in Deutschland unerwartet wieder auf. Einige ihrer Vertreter waren Protestanten, andere Juden. Sie verorteten sich ganz klar in der Moderne, daher gaben sie auch sehr modern anmutende Begründungen dafür, warum die Bibel plötzlich wieder als Inspirationsquelle für politisches Handeln herhalten sollte. Zu dem Bild der Verwirrung trägt bei, dass sie dem Denken, das die moderne liberale Demokratie hervorgebracht hatte, grundsätzlich feindlich gegenüberstanden. Viele von ihnen waren Vertreter der abscheulichsten politischen Theorien des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus und Kommunismus. Dabei handelte es sich nicht um naive Idealisten, die sich mit unverdauten politischen und religiösen Konzepten schmückten. Vielmehr handelte es sich um gelehrte Männer, die sich mit dem philosophischen und theologischen Werk ihrer Vorgänger intensiv auseinandergesetzt hatten und klare Vorstellungen vom Sinn und Zweck des modernen Lebens entwickelt hatten. Sie waren zwar Reaktionäre, aber nicht – wie man sagen könnte – »alter Schule«. Sie argumentierten nicht mit Wundern oder der Unfehlbarkeit der Bibel, weder mit der göttlichen Vorsehung noch mit der geheiligten Tradition. Sie zeigten sich ganz der Zukunft zugewandt, die sie, in theologisch-politischen Begriffen ausgedrückt, als eine Zeit der Erlösung sahen, in der jenes dunkle Zeitalter ein Ende finden sollte, das mit der Moderne begonnen hatte.
    Vor dem Hintergrund der politischen Erschütterungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies aber nur ein Nebenschauplatz der philosophischen Debatte. Doch wenn man sie einreiht in die Geschichte der langen Auseinandersetzung zwischen Religion und Politik im modernen westlichen Denken, gewinnt sie eine ganze neue Bedeutung. Denn auch heute noch denken wir, wenn wir uns mit messianischen Ansätzen der politischen Theologie auseinandersetzen, vor allem an die vormoderne Vergangenheit oder an Entwicklungen in anderen Kulturen. Wir betrachten dieses Denken entweder als »überholt« oder als »anders«. Allein die Vorstellung, im modernen Westen könnte es etwas wie eine politische Theologie geben, ist ungewohnt und verstörend. Noch schwieriger wird es, wenn man sich klar macht, dass die neuen politischen Theologen keine intellektuellen Leichtgewichte waren, deren originäre Erkenntnisse nicht einfach von der Hand zu weisen sind. Das Wiederaufleben der messianischen politischen Theologie kann man nicht als deutschen Irrweg, als kurzzeitige überschießende Reaktion auf den kriegsbedingten Zerfall des europäischen Bürgertums behandeln. Sie war viel eher wohlüberlegte Antwort auf den lang andauernden Streit um das Wesen der Religion und ihrer Beziehung zum politischen Leben, der die klugen Köpfe Europas beinahe vierhundert Jahre lang beschäftigte und der immer noch nicht beigelegt ist.
    Daher stellten sich beim Schreiben dieses Buches vor allem zwei Fragen: Welche philosophischen und theologischen Strömungen ließen die Rückkehr zur politischen Theologie angebracht erscheinen? Und was sagt uns die ganze Debatte darüber, welche Stärken und Schwächen unser gegenwärtiges politisches Denken aufweist? Dabei interessierten mich weder die sozialen noch die historischen Beweggründe, die die einzelnen Philosophen zu bestimmten Argumenten bewegten. Mir ging es vielmehr darum, diese Standpunkte zu rekonstruieren und zu erkunden, ob sie einen kontinuierlichen Schlagabtausch über die Jahrhunderte darstellten. Ob sich also politische Theologie und modernes politisches Denken tatsächlich als verschiedene Denkweisen verstanden und
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