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Der Totenwächter - Roman (German Edition)

Der Totenwächter - Roman (German Edition)

Titel: Der Totenwächter - Roman (German Edition)
Autoren: Vanessa Farmer
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hinter sich, als handele es sich um einen Softball aus Schaumstoff. Der nächste Stein. Nicht ganz so groß. Weg damit. Und der nächste Brocken. Scharfkantig. Interessiert nicht. Weg damit. Er kollerte durch die Halle bis auf die andere Seite. Er hatte kein Gewicht, wie auch der nächste Stein nicht. Linda arbeitete versessen. Sie spürte keine Schmerzen. Nicht in den Fingern, nicht im Rücken. Sie spürte kein Gewicht. Sie handelte wie im Traum. Sie wollte auf die andere Seite. Sie wollte hinein in die Grabkammer. Sie wollte zu ihrer Tochter. Sie verfügte über eine Kraft, die sie nicht einmal erahnt hatte. Also räumte sie Stein für Stein zur Seite. Wühlte und warf, hob und schob. Sie öffnete immer größere Lücken. Das Licht blendete sie. Es war grell und weiß und schoss durch die neu geschaffenen Öffnungen. Sie drückte ihr Gesicht an die Steine und versuchte, in die Grabkammer zu lugen. Sie sah nichts. Es war, als beeinflusse man sie bei einem Polizeiverhör mit einer grellen Lampe. Sie war wie ein Hund, der nach einem Knochen sucht. Sie formte ihre Hände zu Schaufeln und schob Schutt und Staub, Steine und Brocken hinter sich. Sie machte den Weg frei und bald wurde die Öffnung größer. Sie hob einen riesigen Stein, der in Kopfhöhe lag, weg. Sie nahm ihn auf, wie man ein Kind aufnimmt, taumelte damit zurück und warf ihn nach links in die Halle. Er krachte dumpf zu Boden. Steinsplitter stoben auf. Der Krach hallte ohrenbetäubend. Und weitermachen. Der nächste Stein. Schweiß floss Linda über den Körper. Ihre Sehnen und Muskeln revoltierten. Ihre Beine bebten. Ihre Fingernägel brachen ab. Sie spürte es nicht. Sie war wie eine Maschine. Sie kannte nur ein Ziel. Sie wollte zu Grace.
    Sie heulte begeistert auf, als sich eine Öffnung vor ihr auftat. Schmal zwar, aber breit genug, dass sie sich würde hindurchzwängen können. Noch einige weitere Steine und sie würde aus der Öffnung einen Zugang gemacht haben. Es war fast geschafft.
    Nun gaben ihre Beine doch nach. Ihr Kreislauf revoltierte. Sie torkelte, stützte sich am Geröllhaufen ab, drehte sich um ihre eigene Achse und brach zusammen. Sie hatte schon von solchen Kraftakten gehört. Davon, dass Menschen in höchster Not befähigt waren, ihre Grenzen um ein Vielfaches zu überspringen. Was sie nicht gewusst hatte, war, wie sehr der Körper sich gegen diese Schinderei auflehnte. Schwer atmend kauerte sie dort und lehnte mit ihrem schmerzenden Rücken an den Steinen.
    Der Schreck, der sie umfing, war größer als jede Angst, die sie jemals empfunden hatte. Er war allmächtig. Für einen Moment stockte ihr Herz.
    Vor sich sah sie auf zwei Beine. Sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht. Füße, die in Sandalen steckten. Ihr Blick fing sich daran und wanderte langsam nach oben. Ein buntes Gewand. Ein Amulett in Brusthöhe. Arme, weit vom Körper gestreckt. Darüber der Kopf - DER KOPF! Er nickte.
    Über Linda stand Ba, der Vogelmensch!
    Er blickte auf sie hinunter. Dabei öffnete sich langsam sein Schnabel.
     
     
    »Du bist eine mutige Frau«, gurrte er. Linda kannte die Stimme. Hatte sie heute Morgen schon einmal gehört. Sie klang fremd, jedoch verständlich. »Eine mutige Frau.« Er nickte erneut und sein Schnabel öffnete sich. Die links und rechts davon liegenden schwarzen runden Augen blickten tief und wissend zu Linda herab. »Ich möchte dir helfen. Es ist Zeit, dir zu helfen.«
    Linda rappelte sich auf. Sie wich vor Ba zurück. Was hatte das zu bedeuten? Wie kam er hier her?
    Der Vogelmensch wedelte mit seinen Armen, als versuche er zu fliegen. Lächelte er? Konnte ein Vogel lächeln? Er murmelte eine Formel. Sein Körper veränderte sich. Er wurde schlanker und verwehte. Der Geisternebel legte sich um ihn. Er verschwamm, hob sich vom Boden hoch und flutschte durch die Öffnung in die Grabkammer hinein. Dann war er weg. Unsichtbar. Linda krabbelte auf den Geröllhaufen und zwängte ihren Oberkörper durch die Öffnung. Was sie sah, verschlug ihr den Atem.
    Auf dem Sarkophag lag Grace. Sie war nicht gefesselt. Sie war mit einem hellblauen Gewand bekleidet. Um sie herum waren bunte Blüten gestreut. Sie sah aus, wie ein festlich dekoriertes Geburtstagsgeschenk. »Ich bin da. Deine Mom ist bei dir«, rief Linda.
    Grace warf ihren Kopf nach hinten. Es sah aus, als klebe sie am Stein fest. Offensichtlich konnte sie den Rest ihres Körpers nicht bewegen. Ihre Augen glitzerten feucht. »Mom - Mom! Ich bin nicht Sephrete! Er denkt es und will
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