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Der Tote vom Kliff

Der Tote vom Kliff

Titel: Der Tote vom Kliff
Autoren: Hannes Nygaard
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nicht.« Poßnecks Feststellung klang
resignierend.
    Wie sollte Lüder ohne sachkundige Führung auf diesem
ihm unbekannten Terrain jemanden finden? Natürlich konnte er Verstärkung
anfordern und Balzkowski beim Verlassen des Werkgeländes abfangen. Sicher gab
es noch weitere Möglichkeiten, aus diesem Areal herauszukommen. Lüder wäre auf
die Hilfe Poßnecks angewiesen, ohne zu wissen, ob es nicht eine ungeschriebene
Solidarität unter den Stahlwerkern gab, die Balzkowski ein Entkommen sichern
würde.
    Sie standen ratlos vor dem Gebäude, als Lüder den
Gesuchten etwa fünfzig Meter entfernt bemerkte. Balzkowski schien ihn auch
entdeckt zu haben, jedenfalls beschleunigte er seinen Schritt.
    Lüder wollte Balzkowski nicht erneut verlieren, zumal
er sicher war, dass er von seiner Frau informiert worden war. Lüder sprintete
los.
    »He, was soll das?«, hörte er Poßneck rufen. »Bleiben
Sie stehen. So geht das nicht. Sie können hier nicht herumlaufen. Das ist viel
zu gefährl…«
    Der Rest des Satzes ging im Lärm unter. Poßneck war
von Lüders Spurt so überrascht worden, dass er den Anschluss verloren hatte.
Lüder jagte über den zigmal geflickten Asphalt, als er neben sich ein
ohrenbetäubendes Tuten hörte. Aus den Augenwinkeln sah er eine
Rangierlokomotive auftauchen, auf der vorn ein Mann in einem verschmierten
orangefarbenen Overall stand, der eine rot-weiße Fahne schwenkte und ihm etwas
zurief, was Lüder nicht verstand. Lüder stoppte abrupt und spürte den Lufthauch
der Lokomotive und der folgenden drei Waggons, die nahe an ihm vorbeifuhren. Er
schalt sich einen Narren, weil ihn jegliche Vernunft verlassen hatte, als er
zur Verfolgung Balzkowskis angesetzt hatte.
    Völlig atemlos tauchte Poßneck hinter ihm auf und zog
ihn am Revers ein Stück zurück.
    »Sind Sie komplett verrückt?«, schrie ihn der Werksangehörige
an. »Wie dumm muss man sein, um sich so zu verhalten?«
    Der kleine Zug bewegte sich unendlich langsam, und
Lüder sah zwischen den Waggons, wie sich die Distanz zwischen ihm und
Balzkowski vergrößerte.
    »Wo geht es da hin?«, fragte er Poßneck.
    »Zu einem unserer beiden Hochöfen.«
    Lüder sah das unwirklich erscheinende Gewirr aus
Stahlträgern, Leitungen, Kabeln und Masten. Und alles wurde von unendlich
vielen Lampen in ein gleißendes, mystisches Licht getaucht.
    Endlich war der Zug vorbei, und Lüder konnte wieder
starten. Poßneck versuchte erneut, ihn festzuhalten, aber Lüder hatte sich
losgerissen und folgte der Richtung, in der er Balzkowski vermutete.
    Er bog um eine Ecke und sah etwa zwanzig Meter voraus
zwei Arbeiter, die ihm im gemächlichen Schritt entgegenkamen.
    »Habt ihr Balzkowski gesehen?«, fragte er atemlos.
    Einer der Arbeiter streckte den Daumen aus und zeigte
wortlos in Richtung Hochofen.
    Lüder lief weiter und blieb am Fuß des Ungetüms
stehen. Hier war niemand zu sehen. Dafür herrschte ein ohrenbetäubender Lärm.
Ein nervenzerreißendes Kreischen und Quietschen, das er nicht zuordnen konnte.
Von Balzkowski war nichts zu sehen. Der Mann musste irgendwo inmitten des
Gewirrs aus Rohren und Leitungen verschwunden sein. Es war aussichtslos, hier
allein nach ihm zu suchen.
    Lüder sah nach oben. Eine steile Treppe führte außen
am Hochofen in die Höhe. Sie war offen und gut einsehbar. Doch niemand war zu
sehen. Dorthin hatte sich der Verfolgte nicht geflüchtet.
    Hinter sich hörte er das Keuchen Poßnecks, der ihn
erreichte.
    »Jetzt ist aber genug«, schimpfte der Mann. »Das ist
lebensgefährlich, was Sie machen.« Poßneck hatte ein vor Anstrengung knallrotes
Gesicht. Sein Atem ging rasselnd.
    »Wo ist er hin?«, schrie Lüder in das Quietschen
hinein.
    »Das ist mir scheißegal.« Poßneck sprach immer noch
stoßweise.
    Lüder packte den Mann am Revers. »Wo, verdammt noch
mal.«
    Poßneck versuchte sich zu befreien. »Das geht mich nix
an. Und Sie hören sofort auf mit der lebensgefährlichen Verfolgungsjagd.«
    Lüder nahm den Helm vom Kopf und wischte sich den
Schweiß von der Stirn. Die Kleidung klebte ihm am Körper. Er war komplett
durchgeschwitzt. Hier befinde ich mich in einer Sackgasse, gestand er sich ein.
Allein war er orientierungslos, und sein Begleiter würde ihm nicht einen Schritt
weiterhelfen.
    »Verflixt! Setzen Sie sofort den Helm auf!«, schrie
Poßneck. Der Mann war nur noch darauf bedacht, Lüder Vorwürfe zu machen. In
gewisser Hinsicht war das verständlich. In den Augen des Werksangehörigen
verhielt Lüder sich mehr als
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