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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger
Autoren: Charlo von der Birke
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gekommen sei und der die Leute bis
    drei Uhr morgens am Schlafen gehindert habe.
    Aber während sie schwatzte, musterte sie die
    junge Frau mit einem Ausdruck heftiger
    Neugier; und sie schien nur hergekommen zu
    sein und sich unter das Fenster hingestellt zu
    haben, um etwas zu erfahren.
    »Ihr Mann liegt wohl noch im Bett?« fragte sie
    unvermittelt.
    »Ja, er schläft«, antwortete Gervaise, die nicht
    verhindern konnte, daß sie rot wurde.
    Frau Boche sah, wie ihr wieder die Tränen in
    die Augen stiegen. Und zweifellos befriedigt,
    entfernte sie sich, wobei sie die Männer
    verdammte Faulenzer schimpfte; dann kam sie
    zurück, um zu rufen:
    »Sie gehen doch heute früh zum Waschhaus,
    nicht wahr? – Ich habe etwas zu waschen, ich
    werde Ihnen einen Platz neben mir frei halten,
    und dann können wir miteinander reden.« Wie
    von plötzlichem Mitleid ergriffen, sagte sie
    dann: »Meine arme Kleine, Sie würden
    wirklich besser daran tun, nicht dort
    stehenzubleiben, Sie holen sich was weg ... Sie
    sind ja blaugefroren.«
    Starrköpfig blieb Gervaise noch zwei tödlich
    lange Stunden bis acht Uhr am Fenster. Die
    Läden waren geöffnet worden. Die von den
    Anhöhen herabströmende Woge von Kitteln
    hatte aufgehört, und nur ein paar Nachzügler
    passierten weit ausschreitend die Zollschranke.
    Bei den Weinschenken standen dieselben
    Männer und tranken, husteten und spuckten
    weiter. Den Arbeitern waren die Arbeiterinnen
    gefolgt, die Poliererinnen, die Modistinnen
    und die Blumenmacherinnen, die sich fest in
    ihre dünnen Kleidungsstücke hüllten und die
    äußeren Boulevards entlangtrippelten. Sie
    gingen in Gruppen zu dreien oder vieren,
    unterhielten sich lebhaft mit leichtem Lachen
    und in die Runde geworfenen blitzenden
    Blicken. Hin und wieder ging eine ganz allein,
    mager, mit blasser und ernster Miene, an der
    Zollmauer entlang, wobei sie dem Unrat in den
    Gossen auswich. Dann waren die Angestellten
    vorbeigekommen, die in ihre Finger bliesen
    und im Gehen ihr EinSouBrötchen aßen:
    schmächtige junge Leute mit zu kurzen
    Anzügen und Rändern um die Augen, die noch
    ganz trübe vor Schläfrigkeit waren, und kleine
    alte Männer, die mit bleichem, von den langen
    Bürostunden verbrauchtem Gesicht auf ihren
    Füßen hin und her schwankten und auf ihre
    Uhr sahen, um ihren Gang bis auf einige
    Sekunden genau zu regulieren.
    Und die Boulevards hatten ihren
    Morgenfrieden wiedergewonnen. Die
    Rentiers7 aus der Nachbarschaft gingen in der
    Sonne spazieren, die Mütter, mit bloßem Kopf
    und in schmutzigen Röcken, wiegten in ihren
    Armen Wickelkinder, die sie auf den Bänken
    trockenlegten, ein ganzer Schwarm zerlumpter
    rotznäsiger Gören balgte sich, kroch unter
    Plärren, Lachen und Weinen auf der Erde
    herum.
    Jetzt fühlte Gervaise, wie sie erstickte, von
    einem Schwindel der Angst ergriffen und mit
    ihrer Hoffnung am Ende; ihr war, als sei alles
    zu Ende, als sei die Welt zu Ende, als würde
    Lantier nie mehr heimkehren. Sie ließ ihre
    gedankenverlorenen Blicke von den alten
    Schlachthäusern, die schwarz waren von ihrem
    Gemetzel und ihrem Gestank, zu dem neuen
    fahlen Hospital schweifen, das durch die noch
    gähnenden Löcher seiner Fensterreihen kahle
    Säle sehen ließ, in denen der Tod seine Sense
    schwingen sollte. Ihr gegenüber hinter der
    Zollmauer blendete sie der gleißende Himmel,
    die aufgehende Sonne, die über dem
    unermeßlichen Erwachen von Paris größer
    wurde.
    Die junge Frau saß mit hilflos herabhängenden
    Händen auf einem Stuhl und weinte nicht
    mehr, als Lantier seelenruhig eintrat.
    »Da bist du ja, da bist du ja!« rief sie und
    wollte ihm um den Hals fallen.
    »Ja, da bin ich – na und?« antwortete er. »Du
    willst doch nicht etwa mit deinen Albernheiten
    anfangen?« Er hatte sie beiseite geschoben.
    Dann schleuderte er weit ausholend mit einer
    mißmutigen Gebärde seinen schwarzen Filzhut
    auf die Kommode.
    Er war ein kleiner, sehr brünetter Bursche von
    sechsundzwanzig Jahren mit einem hübschen
    Gesicht und schmalem Schnurrbart, den er
    stets mit einer mechanischen Handbewegung
    zwirbelte. Er trug eine leinene Arbeitshose und
    einen alten, fleckigen Überzieher, den er in der
    Taille eng zusammenzog, und sprach mit
    einem stark ausgeprägten provenzalischen
    Akzent.
    Gervaise, die auf den Stuhl zurückgesunken
    war, beklagte sich leise in kurzen Sätzen.
    »Ich habe kein Auge zumachen können ... Ich
    glaubte, man habe dir etwas angetan ... Wo
    bist du hingegangen?
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