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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger
Autoren: Charlo von der Birke
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ihrem
    Brot unter dem Arm zur Arbeit gingen. Und
    das Gewühl ergoß sich nach Paris hinein, wo
    es unaufhörlich versank. Als Gervaise mitten
    unter all diesen Leuten Lantier zu erkennen
    glaubte, beugte sie sich, auf die Gefahr hin,
    hinauszufallen, noch weiter vor; dann preßte
    sie ihr Taschentuch fester auf den Mund, um
    ihren Schmerz gleichsam in sich
    hineinzudrücken.
    Eine junge heitere Stimme bewirkte, daß sie
    vom Fenster wegtrat.
    »Ihr Mann ist wohl nicht da, Madame
    Lantier?«
    »Allerdings nicht, Herr Coupeau«, antwortete
    sie und bemühte sich zu lächeln.
    Es war ein Bauklempner, der ganz oben im
    Hotel ein Gelaß zu zehn Francs bewohnte. Er
    hatte seinen Beutel über die Schulter
    geworfen. Da er den Schlüssel in der Tür
    steckend gefunden hatte, war er als Freund
    hereingekommen.
    »Sie wissen ja«, fuhr er fort, »ich arbeite jetzt
    da im Hospital ... Ein schöner Mai, nicht
    wahr? Ganz hübsch frisch heute früh.« Und er
    betrachtete Gervaises von den Tränen
    gerötetes Gesicht. Als er sah, daß das Bett
    nicht aufgedeckt war, schüttelte er sacht den
    Kopf; dann kam er bis an das Bettchen der
    Kinder, die immer noch mit ihren rosigen,
    pausbäckigen Gesichtern schliefen, und senkte
    die Stimme: »Na, ihr Mann ist unvernünftig,
    nicht wahr? – Grämen Sie sich nicht, Madame
    Lantier. Er beschäftigt sich viel mit Politik; als
    man neulich für Eugène Sue4 – einen
    tüchtigen Kerl, wie es scheint – gestimmt hat,
    war er wie ein Verrückter. Vielleicht hat er die
    Nacht auch mit Freunden zusammen verbracht
    und über diesen Lumpen Bonaparte5
    geschimpft.«
    »Nein, nein«, murmelte sie mühsam, »das, was
    Sie glauben, ist es nicht. Ich weiß, wo mein
    Mann ist ... Mein Gott, wir haben unseren
    Kummer wie alle Welt!«
    Coupeau zwinkerte mit den Augen, um zu
    zeigen, daß er nicht auf diese Lüge hereinfalle.
    Und er brach auf, nachdem er ihr angeboten
    hatte, ihre Milch zu holen, falls sie nicht
    weggehen wolle: sie sei eine schöne und
    rechtschaffene Frau, sie könne auf ihn
    rechnen, wenn sie einmal in Not sein sollte.
    Sobald er sich entfernt hatte, stellte sich
    Gervaise wieder ans Fenster.
    An der Zollschranke ging das
    Herdengetrampel in der Morgenkälte weiter.
    Man erkannte die Schlosser an ihren blauen
    Jacken, die Maurer an ihren weißen
    Leinenhosen und die Maler an ihren
    Überziehern, unter denen lange Kittel
    hervorsahen. Von weitem wahrte diese Menge
    eine gipsartige Verwischtheit, einen neutralen
    Ton, in dem verschossenes Blau und
    schmutziges Grau vorherrschten. Ab und zu
    blieb ein Arbeiter stehen und zündete seine
    Pfeife wieder an, während rings um ihn die
    anderen stets weitergingen ohne ein Lachen,
    ohne ein an einen Kumpel gerichtetes Wort,
    die Wangen erdfahl, das Gesicht hingestreckt
    nach Paris, das sie einen nach dem anderen
    durch die gähnende Rue du
    FaubourgPoissonnière verschlang. An den
    beiden Ecken der Rue des Poissonniers
    verlangsamten unterdessen an der Tür der
    beiden Weinhändler, die ihre Fensterläden
    abnahmen, Männer den Schritt; und bevor sie
    eintraten, blieben sie mit schiefen Blicken auf
    Paris und schlaffen Armen am Rande des
    Bürgersteiges stehen, schon gewonnen für
    einen Tag des Bummelns. Vor den
    Schanktischen spendierten Gruppen unter sich
    Lagen, vergaßen dort im Stehen die Zeit,
    füllten die Räume, spuckten, husteten und
    spülten sich mit hintergekippten Gläschen die
    Kehle.
    Gervaise spähte nach links in der Straße nach
    Vater Colombes Lokal, wo sie Lantier gesehen
    zu haben meinte, als eine dicke Frau mit
    bloßem Kopf und Schürze sie von der Mitte
    des Fahrdamms aus anrief:
    »Hören Sie, Madame Lantier, Sie sind ja sehr
    früh auf!« Gervaise beugte sich vor.
    »Ach, Sie sind es, Madame Boche! – Oh, ich
    habe einen Haufen Arbeit heute!«
    »Ja, es macht sich nichts von allein, nicht
    wahr?«
    Und es entspann sich eine Unterhaltung vom
    Fenster zum Bürgersteig. Frau Boche war die
    Concierge6 des Hauses, dessen Erdgeschoß
    das Wirtshaus »Veau à deux têtes« einnahm.
    In ihrer Loge hatte Gervaise öfter auf Lantier
    gewartet, um sich nicht allein mit all den
    Männern, die nebenan aßen, zu Tisch zu
    setzen. Die Concierge erzählte, sie gehe ganz
    in die Nähe zur Rue de la Charbonnière, um
    einen Angestellten im Bett anzutreffen, von
    dem ihr Mann die Ausbesserung eines
    Überrocks nicht bezahlt bekommen konnte.
    Dann sprach sie von einem ihrer Mieter, der
    am vergangenen Abend mit einer Frau nach
    Hause
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